Der Vernünftige Zeitvertreiber

Blättern: < zum Text 29

(p 517)

Der Tempel der Ungewissheit

In einem Lande, das in dem vierzigsten Grade der Breite lieget, ist ein sehr weit ausgebreitetes Thal, dessen gemächlicher Abhang die Leute anlocket, es

(p 518)

durchzuwandern. Hinten im Thale stehet ein prächtiger Tempel, welcher der Göttinn der Unwissenheit geweyhet ist. Um ihn her stehen viele bejahrte Eichen, und der Boden ist mit Unkraut, und Dorren bewachsen. Die Bauart dieses Tempels ist gohtisch, und über der grossen Pforte ist ein ungeheures gähnendes Maul sehr schlecht im Steine gehauen. An den Seiten dieser Pforte stehen zwo Statäen, die ihre Achseln verächtlich gegen einander zucken, und einander fortzustossen suchen. Auf dem einem Fußgestelle liefet man Theorie, auf dem andern aber Praxis. Kaum tritt man über die Schwälle des Tempels, so siehet man schon unzählige Schaaren von Menschen, die in der Kleidung, in den Mienen, und Gebehrden unterschieden sind, den Tempel anfüllen. Einige sind von ihrem gewöhnlichen Schlafe betäubet, und schaukeln sich immer vorwerts, und rückwerts, andere plaudern immer mit einer sehr rauhen Stimme; und uoch andere führen über die, bey dieser zahllosen Menge, immer abwechselnde Zufälle, ein dumms Gelächter. Aber allen ist der Name der Göttinn unbekannt, ja, sie wissen nicht einmal, wo sie sich selbst aufhalten. Die Wände des Tempels sind mit

(p 519)

sind mit allerhand ausschweifenden Gemälden, und abgeschmackten Zierrahten ausgeschmückt; mit Figuren in Goldverbrämten Kleidern, Fischbeinröcken, Schleifen, Schnurbrüsten, Perücken, und dergleichen. Auf einer andern Seite siehet man Schildereyen von Schifbrüchen, und bürgerlichen Kriegen, und ringsumher ist der Tod, und die blasse Uufruchtbarkeit, in verschiedenen Stellungen, und Gestalten abgebildet. — Von einem hohen Gestelle lärmt ein abgezehrtes Weib beständig: „Jünglinge, glaubet euch selbst nicht! Alles was in eurem Innern vorgehet, ist Täuscherey und Blendwerk. Gehet hin zu den Alten, und denket mit frommer Selbstverlaugnung, was sie thun, ist wohlgethan! — Von einer andern Seite her, schreyet, und tobet, ein strotziger Graubart: Jünglinge, die Vernunft ist ein Unthier! Wollt ihr die Wahrheit von dem Lügen unterscheiden, so sammelt die Stimmen von grossen Haufen!" — Unterdessen schlenkert die Menge fort. Bald drängt sie sich vorwerts, und bald taumelt sie wider zurücke. Sie gähnet und lachet, sie siehet, aber sie bemerket nichts; sie höret, und verstehet nichts. Von Zeit zu Zeit trennt sie sich vor einer

(p 520)

wissen Art von Leuten, welche mit der heiliger Doppelart in der Hand, unschuldige menschliche Schlachtopfer zum Altare der angebehteten Göttinn schleppen, und mit derselben Blut ihr nie trockenes Heilighthum begießen. Hier stehet die mächtige Göttinn, wie ein Colossus, in einer Statüe von Korkholz, deren Fußgestell eine ungheure Menge kegelförmig aufgethürmter Bücher ausmachen. — Hinter dem Altare ist ein abgesonderter Einfang. Daselbst befinden sich gewisse Sonderlinge, die der Göttin Loblieder singen, in welchen sie ihr danken, daß sie den Sterblichen die Krankheiten, ihr künftiges Schicksal, und die Stunde des Todes verbirgt. Wenn es aber einer von diesen Leuten waget, dahin zu kommen, wo die Menge versammelt ist, so ist es nicht anders, als wenn der abscheulichste Sturm brauset. Ein fürchterliches Geheul, und laute Verfluchungen erschallen von allen Seiten, und wiederhallen vom hohen Gewölbe. Einige wagen sich nicht hinüber, und weichen also den Beschimpfungen aus. Noch andere suchen den großen Haufen zu hintergehen, und verbergen sich, so gut sie können hinter einer spanischen Wand. Aber, aller ihrer Vorsicht ungeachtet, bringen ihre Ausdün-

(p 521)

stungen dennoch durch, und diese geben schärfsten Stacheln ab, und beleben die Alltagsköpfe zur Verfolgung. Am Fuße des Altars ist eine Thüre, durch welche man in eine geräumige unterirdische Höhle kömmt, wo man bey dem schwachen Lichte einiger Lampen einen Trupp ernsthafter Philosophen siehet, welche ganze Folianten durchblättern, und auswendig lernen. Dort sind auch vnrschiedene Schulfüchse, welche alte Münzen, und unleserliche Aufschriftungen bewundern. Auch finden sich hier teifsinnige Sprachgelehrte, die mit gewissenhafter Genaugkeit, die Wörter nach ihren Biegungen und Zeiten herplappern. Und hier sind auch diejenigen Herren, welche ihr Leben damit zubringen, daß sie alle wahre Gelehrsamkeit untergraben, und sich einbilden, daß sie nur allein eine tiefe Kenntniß von den gründlichen Wissenschaften haben. Hier werden auch jährich an einem zu dieser Feyerlichkeit eigends bestimmten Tage, ein Exemplar von den Werkes des Newtons, des Wolfs, und des Leibnitz verbrannt. — ENDE
Topic revision: r4 - 15 Sep 2011, PetraZinngieser
This site is powered by FoswikiCopyright © by the contributing authors. All material on this collaboration platform is the property of the contributing authors.
Ideas, requests, problems regarding Foswiki? Send feedback