Der Vernünftige Zeitvertreiber
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Die wunderbare Entdeckung und Verbesserung der Künste und Wissenschaften, seit wenigen Jahrhunderten
Die Welt war vor wenig Jahrhunderten, sowohl was die Handlung, als die Schiffahrt betrift, in sehr armseeligen Umständen. Auch war sie in andern Sachen von nutzbarer Wissenschaft nicht viel besser. Es war eine unerfahrne Zeit, jede nützliche Verbesserung blieb ihr verborgen: sie hatten weder in den Himmel noch in die Erde, weder in die See, noch ins Land, wie seitdem geschehen ist, geschauet. Die Weltweisheit war ohne Versuch; ihre mathematischen Wissenschaften ohne Werkzeuge; die Feldmesserkunst ohne Maasstab; und die Sternkunde ohne Beweis.
Sie führten Krieg ohne Pulfer, Bley, Kanonen und Mörser; ja, der Pöbel machte seine Freudenfeuer ohne Racketen oder Schwärmer. Sie giengen zur See, ohne Compaß, und segelten ohne Magnetnadel. Sie betrachteten die Sterne ohne Fernglä-
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ser, und Massen die Breiten ohne Beobachtung. Die Gelehrsamkeit hatte keine Druckerey, das schreiben kein Papier, und das Papier keine Dinte. Der Liebhaber muste seiner Geliebten ein Tannenbret statt eines Liebesbriefes schicken, und ein Liebesbekenntniß war ungefähr so groß wie ein hölzerner Teller. Sie waren gekleidet, ohne daß sie Manufakturen hatten. Und ihre reichsten Kleider waren die Felle der fürchterlichsten Ungeheuer. Sie führten Handlung ohne Buch zu halten, und Briefwechsel ohne Posten; ihre Kaufleute hielten keine Hauptbücher, und ihre Krämer keine Cassenbücher. Sie übten die Wundarzney ohne Zergliederungskunst, und die Arzneykunst ohne Materia medica. Sie gaben Brechmittel ohne
Ipecacuanna, zogen Blasen ohne spanische Fliegen, und heilten Fieber ohne
Chinarinde.
Was die geographischen Entdeckungen betrift, hatten sie weder die Nordkap, noch die der guten Hoffnung gegen Mittag gesehen. Alle Theile der entdeckten bewohnten Welt, welche sie kannten, und womit sie Umgang hatten, waren in sehr engen Grenzen eingeschränkt. Diese waren Frankreich, Britannien, Spanien, Italien, Deutschland und Griechenland, das
kleine Asien, die gegen Abend gelegenen Theile von
Persien,
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Arabien, die nördlichen Theile von Afrika, und die Inseln des mittelländischen Meeres, und diese machten bey ihnen die ganze Welt aus. Nicht daß eben diese Länder ihnen vollkommen bekannt waren, gar nicht, verschiedene Theile derselben hatten sie noch nicht ausgeforschet. Deutschland war ein wenig weiter als die Ufer der
Elbe bekannt,
Pohlen ein wenig über die Weichsel, oder Hungarn jenseit der
Donau. Rußland war so vollkommen unbekannt, als China jenseit desselben, und Indien nur bloß durch die kleine Handlung auf den Küsten um
Suratte und
Malabar.
Afrika war bekannter, aber durch den Untergang der
Carthaginenser waren alle westlichen Küsten desselben aus der Kundschaft wieder gekommen, und in Vergessenheit gesunken. Die nördlichen Küsten von Afrika an dem mittelländischen Meere blieben bekannt, und das war es alles. Denn die
Saracenen überfielen die Völker, welche sich daselbst gesetzet hatten, zerstörten die Handlung sowohl als die Religion. Das baltische Meer war noch nicht entdecket, und die Schiffahrt darauf unbekannt; denn die deutschen Ritter kamen nicht eher hieher, als indem 13ten Jahrhunderte.
Von Amerika hatte man noch nichts gehöret, es kam auch nicht in den Sinn der
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Menschen, daß wo noch ein Theil der Welt läge. Die Küsten von
Grönland und Spitzbergen, und die Walfischfischerey war unbekannt. Die besten Seeleute in der Welt würden damals mit mehr Furcht und Schrecken für einen Walfisch geflohen seyn, als für den Teufel in seiner schrecklichsten Gestalt, worinnen er, der Sage nach, erschienen ist.
Die Küsten von
Angola,
Congo, die
Gold- und
Kornküsten an der Westseite von Afrika, von wannen man seit der Zeit so große Reichtümer geholet, waren noch nicht entdecket, und nicht die geringste Untersuchung darnach angestellet. Alle
ostindische und chinesische Handlung war nicht allein nicht entdecket, sondern sie konnten sie auch nicht einmal hoffen. Von Caffee, Thee und Chocolade, diesen neuen Glückseeligkeiten des menschlichen Geschlechts, hatte man noch nichts gehöret; das ganze unbegränzte Weltmeer, welches wir die Südsee nennen, war verborgen und unbekannt. Das ganze atlantische Meer jenseits der Strasse, schien ihnen von weiten fürchterlich und schrecklich, es durfte sich kaum jemand hinein wagen, es sey denn, daß er längst den Küsten von Afrika nach
Salee, oder
Santa Crux hin schlich. Die nordlichen Meere lagen durch einen Vorhang un-
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durchdringlicher Finsterniß verborgen; das weisse Meer bey Archangel ist nur neulicher Zeit entdecket, und nicht eher erfunden, als bis der Ritter
Hugo Willougby die Nordkap vorbey seegelte, und diese Kühnheit theuer genug bezahlte, indem er mit allem seinem Volke an den lapländischen Küsten erfror, während das in seiner Gesellschaft fahrende Schif mit dem berühmten Herrn
Chancellor, den Meerbusen von Rußland, in das sogenannte weiße Meer hinein kam, wo keine reisenden Christen jemals vor ihm hingekommen sind.
So eingeschränkt war die Kenntniß der Welt in dem Anfange des 15ten Jahrhunderts, da Männer von grosser Einsicht anfiengen auswärts und um sich her zuschauen. Gleichwie es nun wunderbar war, eine Welt so voller Völker, und Völker einer Verbesserung so fähig, und doch so dumm, so blind, so unwissend, und so wenig verbessert zu sehen: so war es eben so wunderbar zu betrachten, mit was für einer allgemeinen Munterkeit sie fast alle zugleich aufgewecket wurden. Sie bereiteten sich, als wenn es plötzlich durch eine allgemeine göttliche Eingebung geschähe, die Wissenschaft auf dem ganzen Erdboden auszubreiten, und einer jeden Sache nachzuforschen, die nur zu entdecken möglich war.
Wie müßen wir nicht erstaunen, wenn wir nur einen kleinen Weg hinter uns zurück sehen, und bemerken, daß in weniger als 200. Jahren, dieser ganze nun so stolze Theil der Welt nicht einmal wußte, ob ein solcher Ort, als Rußland, China, Guinea, Grönland,
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oder Nordkap irgend wo wäre? Was Amerika betrift, so glaubte niemand, daß ein solches Land da sey. Noch hatte die Welt, ob sie gleich auf den Schultern einer viertausendjährigen Erfahrung stund, nicht den geringsten Gedanken, daß auf dem Wege dorthin noch einiges Land vorhanden wäre.
So unwissend wie sie in Ansehung der Länder waren, eben so waren sie auch in Ansehung der Sachen. So ungemein groß find die Verbesserungen der Wissenschaft, daß unsere ganze Erkenntniß der Mathematik, und der Natur, des glänzendsten Theiles der menschlichen Weisheit, unter uns innerhalb der beyden letzteren Jahrhunderte angewachsen ist.
Was war denn also die Welt vorher? und womit waren die Köpfe und Hände der Menschen beschäftiget? — Der Reiche hatte keine Handlung, der Arme keine Arbeit, der Krieg und das Schwerdt waren das große Feld der Ehre, der Schauplatz der Beförderung. Kaum that sich ein Mann in der Welt vor der Zeit hervor, als durch einen rasenden unrechtmäßigen Angrif seiner Nebengeschöpfe, wie
Nimrod und seine Nachfolger, in neueren Zeiten.
Die Welt wächset nun täglich in erfahrender Erkänntniß; es muß aber keiner unseren Zeiten schmeicheln, mit dem Vorgeben, wir wären zur Vollkommenheit der Entdeckungen gestiegen. Denn was nun entdecket ist, das dienet nur bloß, zu zeigen, daß das Bekannte, gegen das noch Unbekannte, nichts sey.