Der Vernünftige Zeitvertreiber

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Philosophise Betrachtung über die Todesstunde

Der Tod, diese so merkwürdige, diese so gefürchtete Veränderung unsers Zustandes, ist in der Reihe der natürlichen Begebenheiten nichts weiter, als die Vollendung eines vorhergehenden Zustandes. Die nohtwendige Folge der Zernichtung unsers Körpers, führt diesen Grad wie alle andere vorhergegangene, mit sich; das Leben fängt lange vorher an zu verlöschen, ehe es völlig auslöscht; und vielleicht ist die Entfernung von der kindischen Schwachheit bis zur Jugend,

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würklich weiter, als die Entfernung von dem hohen Alter bis zum Tode; denn hier muß man das Leben nicht als eine absolute Sache, sondern vielmehr als eine, der Vermehrung oder Verminderung fähige Größe betrachten. In dem Augenblicke, da sich die Frucht im Mutterleibe bildet, ist dieses körperliche Leben noch nichts, oder fast nichts; nach und nach vermehret sich solches, es breitet sich aus, es bekömmt nach dem Maaße, da der Körper wächst, Consistenz, es entwickelt und befestiget sich; so bald der Körper anfängt abzunehmen, vermindert sich auch das Maas des Lebens; und wenn dieser sich endlich beugt, austrocknet, und sich senkt, so nimmt das Leben im Wachsthume ab, ziehet sich zusammen, und wird zu nichts. Stufenweise fangen wir an zu leben, und endigen unser Sterben, wie wir zu leben anfangen.

Warum soll man also den Tod fürchten, wenn man so gut gelebt hat, daß man dessen Folgen nicht befürchten darf? Montaigne legt der Natur folgende Sprache bey: „Verlaßt diese Welt wieder, sagt sie, so wie ihr hineingekommen seyd. Wandert eben den Weg, welchen ihr ohne Unruhe und Furcht vor dem Tode, zum Leben gelanget seyd,

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wieder zurück von dem Leben zum Tode. — Der Tod ist ein Theil von euch; ihr fliehet euch selbst. Das Seyn welches ihr genießet, ist unter den Tod und das Leben getheilet. Der erste Tag eurer Geburt nähert euch so wohl dem Tode, als dem Leben. — Wenn ihr das Leben recht genossen habt, so seyd ihr dessen satt. Geht also vergnügt aus demselben! — Der Nutzen des Lebens kömmt nicht auf desselben Dauer, sondern auf den Gebrauch an. — Es beruht auf eurem Willen, daß ihr lang genug gelebt habt. — Ihr habt ja genug Leute gesehen die sich beym Sterben wohl befunden haben, und dadurch großem Elende entgangen sind. Habt ihr Gegentheils wohl einen einzigen gesehen, der sich übel dabey befunden hat? Es ist also eine große Einfalt, daß ihr eine Sache verwerft, die ihr weder selbst versucht habt, noch durch andere habt versuchen lassen. — Warum fürchtest du dich vor deinem letzten Tage? Er trägt nicht mehr als jeder der übrigen zu deinem Tode bey. Der letzte Schritt verursacht die Müdigkeit nicht, er offenbart sie nur. Alle Tage gehen nach dem Tode zu, der letzte gelang dahin.“ — Sollten wir nicht also dem Rufe der Natur folgen? Und warum

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soll uns dieser Augenblick schrecklich vorkommen, da er von einer unendlichen Reihe Augenblicke, in gleicher Ordnung, vorbereitet worden; da der Tod eben so natürlich als das Leben ist, und da wir zu einem wie zum andern auf ähnliche Art gelangen, ohne daß wir es empfinden, ohne daß wir solches gewahr werden können? Man frage die Aerzte und Geistlichen, die gewohnt sind, die Handlungen der Sterbenden zu beobachten, und ihre letzten Empfindungen zu sammlen, sie werden gestehen müssen, daß, außer einer kleinen Anzahl von hitzigen Krankheiten, wo die, durch convulsivische Bewegungen verursachte Unruhe, einiges Leiden des Kranken anzuzeigen scheinet, bey allen übrigen Arten von Krankheiten man ruhig, sanft und ohne Schmerzen sterbe, und daß sogar die schrecklichen Todeskämpfe die Zuschauer mehr erschrecken, als den Kranken würklich beunruhigen. Wie viele hat man nicht gesehen, die in den letzten kritischen Umständen weder von denjenigen, so mit ihnen vorgegangen, noch von denjenigen, so sie dabey empfunden, nicht das mindeste Andenken gehabt? Sie haben würklich während dieser Zeit aufgehört, sich ihrer bewußt zu seyn, da sie sich genöhtiget gesehen, aus

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der Zahl ihrer Tage alle diejenigen, die sie in diesem Zustande verbracht, und von welchen ihnen nicht die mindeste Idee mehr übrig gewesen, auszustreichen.

Der mehreste Theil der Menschen stirbt also, ohne es zu wissen daß er stirbt; und unter der geringen Zahl derjenigen, welche sich ihrer bis zum letzten Seufzer bewußt sind, findet sich vielleicht nicht ein einziger, der nicht zu gleicher Zeit die Hoffnung sollte behalten haben, und der sich nicht mit einer Widerkehr zum Leben hätte schmeicheln sollen. Zum Glücke des Menschen hat die Natur diese Empfindung viel stärker gemacht, als die Vernunft. Ein Kranker, dessen Zustand unheilbar ist, der solches selbst aus bekannten und häufigen Beyspielen urteilen kann, der solches aus den unruhigen Bewegungen seiner Familie, aus den Trähnen seiner Freunde, aus der Beständigkeit oder Verlassung der Aerzte, schließen kann, wird dadurch dennoch nicht überzeugt werden, daß die letzte Stunde herannahe; die Sache ist so wichtig für ihn, daß er dabey sich lediglich auf sich selbst verläßt; daß er den Urtheilen anderer keinen Glauben beymißt, und sie nur als eine eitel und übel gegründete Furcht betrachtet. So lange

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man sich noch empfindet, und solange man noch denket, so lange macht man nur Uiberlegungen und Vernunftschlüsse für sich; und ob gleich alles schon abgestorben und tod ist, so lebt doch die Hoffnung noch.

Werfet die Augen auf einen Kranken, der sich wohl hundertmal verlauten lassen, daß er todkrank sey, daß er an seinem Aufkommen zweifle, und daß er bereit sey zu sterben. Untersuchet, was auf seinem Gesichte vorgehet, wenn ihm jemand aus Eifer oder aus Unvorsichtigkeit ankündigt, daß sein Ende würklich sehr nahe sey; ihr werdet sehen, daß er sich auf eine solche Art verändern wird, wie ein Mensch, dem man eine ganz unerwartete Neuigkeit hinterbringt. Dieser Kranke glaubt also selbst nicht, was er sagt, und es ist eben so gewiß, daß er bey weitem noch nicht völlig, sterben müsse; er ist lediglich wegen seines Zustandes zweifelhaft und ungewiß; er fürchtet aber allezeit weniger als er hofft, und wenn man seine Furcht durch die traurige Sorgfalt, und durch die kläglichen Anstalten, welche gemeiniglich vor dem Tode vorherzugehen pflegen, nicht rege machte, so würde er gewiß die Ankunft des Todes nicht gewahr werden.

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Der Tod ist also bey weitem kein so fürchterliches Ding, als wir uns einbilden; wir halten ihn nur in der Entfernung für etwas schreckliches; es ist ein Gespenst, das uns nur auf eine gewisse Weite erschreckt, und das verschwindet, so bald man es näher herantreten stehet. „Ich glaube, sagt Montaigne, daß die entsetzlichen Umstände und Anstalten, welche wir dabey machen, uns mehr, als er selbst in Furcht jagen. Eine ganz neue Lebensart, das Geschrey der Mütter, Weiber und Kinder, die Besuche von erschrocknen und ganz außer sich gesetzten Personen, die Gegenwart einer Menge verblaßter und jämmerlich weinender Bedienten, ein dunkles Zimmer, brennende Wachslichter, die Aerzte und Prediger, welche unser Bette umringen: kurz alles, was um uns ist, verursacht Grausen und Entsetzen. Wir sind schon so gut als begraben und verscharret. Die Kinder fürchten sich so gar für ihren Freunden, wenn sich dieselben maskiret haben; und so machen wir es auch. Man muß so wohl den Sachen als den Personen die Larve abziehen. Ist das geschehen: so werden wir unter derselben nichts als eben den Tod verborgen finden, welchen ein Diener, eine schlechte Magd, vor kurzem

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unerschrocken überstanden haben. Glückselig ist der Tod, welcher zu dergleichen Weitläuftigkeiten keine Zeit läßt! „Wir haben also nur falsche Begriffe von dem Tode, wir betrachten ihn nicht nur als das größte Uibel, sondern auch über dieses noch als ein solches Uibel, das von den lebhaftesten Schmerzen und der empfindlichsten Angst begleitet wird; wir haben uns so gar Mühe gegeben, diese traurigen Bilder in unsrer Einbildungskraft zu vergrößern, und unsere Furcht zu vermehren, wenn wir von der Natur des Schmerzens uns falsche Begriffe machen. Man sagt, der Schmerz muß auserordentlich heftig seyn, wenn sich die Seele vom Leibe scheidet; er kann auch langwierig seyn, weil, da die Zeit kein anderes Maas als die Folge unserer Ideen hat, ein sehr schmerzhafter Augenblick, in welchem diese Ideen mit einer der Heftigkeit des Schmerzens gemäßen Schnelligkeit auf einander folgen, uns länger als ein Jahrhundert scheinen kann, in welchem sie langsam und nach Verhältniß der ruhigen Empfindungen, die uns gewöhnlich in Bewegung setzen, aufeinander folgen. Was für ein Misbrauch der Philosophie liegt nicht in diesem Vernunftschlusse! Er verdiente nicht erwähnt

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zu werden, wenn er nicht von Folgen wäre; allein er hat einen Einfluß auf das Unglück des menschlichen Geschlechts, er macht den Anblick des Todes tausendmal furchtbarer, als er würkllch seyn kann, und wäre auch die Zahl der Menschen, welche durch den scheinbaren Anstrich dieser Begriffe betrogen werden, noch so geringe, so würde es doch allezeit von großem Nutzen seyn, deren Falschheit zu zeigen, und sie auszurotten.

Empfinden wir wohl zu der Zeit, wenn sich die Seele mit unserm Körper vereiniget, ein übermäßiges Vergnügen, eine lebhafte und jählinge Freude, die uns entzückt und außer uns setzt? Nein! diese Vereinigung geschiehet, ohne daß wir etwas davon gewahr werden; und die Auflösung dieser Vereinigung muß ebenfalls ohne alle Empfindungen geschehen. Woraus will man denn schließen, daß die Trennung der Seele von dem Leibe nicht ohne äussersten Schmerz geschehen könne? Was kann diesen Schmerzen hervorbringen oder verursachen? soll man ihm seinen Sitz in der Seele oder in dem Körper anweisen? Nichts kann den Schmerz in der Seele zuwege bringen, als der Gedanke; der

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Schmerz des Körpers aber stehet allezeit mit dessen Stärke oder Schwäche in Verhältnis. In dem Augenblicke eines natürlichen Todes ist der Körper am schwächsten, er kann also nur einen sehr geringen Schmerz empfinden, wenn er ja noch einen empfindet.

Wir wollen auch einen gewaltsamen Tod voraussetzen. Sollte z. E. ein Mensch, dessen Kopf von einer Kanonenkugel weggenommen worden, von einem Augenblicke mehr leiden? Sollte er in dem Zwischenraume dieses Augenblicks eine so schnelle Folge von Ideen haben, daß ihm dieser Schmerz eine Stunde, einen Tag, oder ein Jahrhundert zu dauern scheinen sollte? Dieses ist zu untersuchen.

Ich räume ein, daß die Folge unserer Ideen, in Ansehung unserer, das einzige Maas der Zeit sey, und daß wir solches viel kürzer oder viel länger finden müßen, nachdem unsere Ideen entweder mehr einförmig laufen, oder sich mehr unordentlich kreutzen. Dieses Maas aber hat eine Einheit, deren Größe weder willkührlich noch unbestimmt ist, und sie stehet mit unserer Organisation im Verhältnisse. Zwo Ideen, die auf einander, folgen, oder die nur von

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einander unterschieden sind, werden nohtwendig durch einen gewissen Zwischenraum von einander abgesondert. So schnell auch ein Gedanke entsteht, so wird doch eine kleine Zeit erfordert, in der ein anderer Gedanke nachfolgen kann, und diese Folge kann in keinem untheilbaren Augenblicke geschehen. Eben so verhält sich es auch mit der Empfindung. Es gehört eine gewisse Zeit dazu, von dem Schmerzen zum Vergnügen, oder selbst von einem Schmerzen zu einem andern Schmerzen überzugehen. Dieser Zwischenraum der Zeit, der nohtwendig unsere Gedanken, und unsere Empfindungen von einander absondert, ist die Einheit, von der ich rede. Er kann weder außerordentlich lang, noch außerordentlich kurz seyn; er muß so gar fast gleichförmig in seiner Dauer seyn, weil er von der Natur unserer Seele, und von dem Baue unsers Körpers abhängt, deren Bewegungen nur einen gewissen Grad von bestimmter Geschwindigkeit haben können. Es können also in einem einzelnen Wesen keine solchen Folgen von mehr oder weniger geschwinden Ideen, nach dem Grade, der nöhtig wäre, einen so beträchtlichen Unterschied von Dauer hervorzubringen, sich ereig-

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nen, daß sie aus einer schmerzhaften Minute, ein Jahrhundert, einen Tag, eine Stunde, machen sollten.

Ein sehr lebhafter Schmerz, er sey auch noch von so geringer Dauer, verursacht eine Ohnmacht oder den Tod. Unsere Glieder haben nur einen gewissen Grad von Stärke, und können nur auf, eine bestimmte Zeit einem gewissen Grade von Schmerzen widerstehen. Wenn dieser das Maas übersteigt, so hört er auf weil er viel stärker als der Körper ist, der, weil er solchen nicht ausstehen kann, ihn noch weniger der Seele mitzutheilen vermögend ist, weil er auf solche nur so lange einen Eindruck machen kann, als die Glieder in der Wirkung sind. Da nun hier die Wirkung der Glider aufhört, so muß auch die innerliche Empfindung, die sie der Seele mittheilen, ihre Endschaft erreichen.

Dieses nun, was ich hier gesagt habe, dürfte vielleicht hinlänglich genug seyn, zu beweisen, daß der Augenblick, indem wir sterben, weder von einem auserordentlichen, noch lang anhaltenden Schmerze begleitet werde. Ich muß aber zur Beruhigung derjenigen, denen es für andern an Muhte und Herzhaftikeit fehlt, noch ein paar Worte hinzusetzen. Ein

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übermäßiger Schmerz läßt nicht die mindeste Ueberlegung zu; und dennoch hat man öfters Spuren von einiger Uiberlegung in dem Augenblicke, da Leute einen gewaltsamen Tod erlitten, wahrgenommen. Als Karl der 12te, den Schuß erhielt, der in einem Augenblicke seinen Unternehmungen und seinem Leben ein Ende machte, legte er noch die Hand an seinen Degen. Dieser tödliche Schmerz war also nicht übermäßig, weil er die Uiberlegung noch nicht ausschloß; er empfand sich angegriffen, er machte also die Uiberlegung, er müße sich vertheidigen; er litt also nur so viel, als man von einem ordentlichen Schuße leidet. Man kann nicht sagen, daß diese Handlung eine blos mechanische Bewegung zum Grunde gehabt habe, denn die Bewegungen, und selbst die schnellsten, hängen allezeit von der Uiberlegung ab, und sind nichts als Wirkungen eines der Seele beywohnenden Willens.
Topic revision: r8 - 27 Sep 2011, PetraZinngieser
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