Der Vernünftige Zeitvertreiber

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Betrachtungen über die kurze Dauer des menschlichen Lebens.

Von einem morgenländischen Monarchen wird gemeldet, daß er einen Beamten an seinem Hofe gehalten, dessen Ammt es war, ihn seiner Sterblichkeit zu erinnern, unddaß er jeden Morgen, um eine bestimmte Stunde ausrufen müsse: Erinnere dich, Prinz, daß du sterben mußt! Und die Betrachtung der Gebrechlichkeit und Ungewißheit unseres gegenwärtigen Zustandes schien dem Solon von Athen, so wichtig zu seyn, daß er diese Lehre der Nachwelt hinterließ: Behalte das Ende des Lebens vor deinen Augen!

Ein öfterer und aufmerksamer Blick auf jene Stunden, die allen unsern Entwürfen ein Ende machen, und uns aller unserer Erwerbungen berauben müßen, ist in der That höchst fähig, uns zu einer gerechten und vernünftigen Anordnung

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unserer Sachen, und einer weisen und glücklichen Einrichtung unseres Lebens, zu bewegen. Niemals würde etwas ungerechtes und seltenes, etwas abgeschmacktes von demjenigen unternommen oder fortgesetzet werden, der jeden Tag mit der ernstlichen Uiberlegung anfangen würde, daß er gebohren ist, zu sterben.

Die Stöhrer unserer Glückseligkeit in dieser Welt sind unsere Begierden, unsere Sorgen nnd Schmerzen, und unsere mannigfaltige Furcht. Und für alle diese ist die öftere Betrachtung des Todes, ein zuverläßiges und hinreichendes Artzneymittel. Denke, sagt Epictetus oft an die Armuht, an die Landesverwiesenen und den Tod; so wirst du niemals einiger ungestümmen Begierde Raum geben, noch dein Herz einer niedrigen Gesinnung einräumen.

Daß die Maxime des Epictetus ans eine genaue Beobachtung gegründet ist, werden wir leichtlich zugeben, wenn wir überlegen, wie jene Heftigkeit der Begierden nach den gemeinen Gegenständen der Wünsche, eigentlich in unsern Gemühtern entzündet wird. Wir stellen uns die Vergnügungen irgend eines künftigen Besitzers vor, und erlauben unsern

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Gedanken, sich aufmerksam darbey zu verwenden, bis sich dieses eingebildete Gut unserer ganzen Einbildungskraft bemeistert hat, und uns keine andere Glückseligkeit, als dessen Erlangung; und keine andere Ehren mehr, als dessen Verlust gedenken läßet. Jedes andere Vergnügen, das die Vorsehung auf die Bahn des Lebens gesteuret hat, wird als geringe gegen den grossen Gegenstand, den wir uns vorgesetzt haben, verachtet, als eine Hinderniß unserer Geschäftigkeit weggestossen, oder als ein Stein des Anstoßes unter die Füße getreten.

Ein jeder hat erfahren, wie sehr dieser Eifer erkaltet ist, wenn eine schmerzhafte oder langwierige Krankheit ihm den Tod vor Augen gestellet hat. Der weitläuftige Einfluß der Größe, der Schimmer des Reichthums, das Lob der Bewunderer, und die Aufwartung unterthäniger Clienten und Sclaven, haben eitele und leere Dinge geschienen, so bald die letzte Stunde sich zu nähern scheinet: und so würden sie allzeit angesehen werden, wenn eben derselbe, Gedanke allezeit die Oberhand behielte. Alsdann würden wir sehen, wie abgeschmackt es ist, unsere Arme ohne Unterlaß nach etwas auszustrecken, das wir nicht behalten

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können, wenn wir es ergriffen haben; und unser Leben auf Besserungen zu verschulden, neue Thürme auf das Gebäude des Ergeitzes zu bauen, wenn dessen Grund selbst wankte, und der Platz worauf es stehet, vom Moder gefressen wird.

Jeder Neid ist einer Zierde proportionirt. Wir sind über die Vortheile anderer mißvergnügt, je, nachdem wir gedenken, daß unsere eigene Glückseligkeit durch die Zugabe desjenigen, was ein anderer uns vorenthält, würde vermehret werden; und was daher unmäßige Begierden bändiget, wird zu gleicher Zeit das Herz vom Nagen des Neides erlösen, und uns von diesem Laster befreyen, welches vor den meisten andern, uns selbst qwälet, der Welt verhaßt, und fruchtbar an niederträchtigen Kunstgriffen, und schimpflichen Entwürfen ist. Wer da bedenkt, wie bald er sein Leben beschließen muß, der wird nichts so wichtig finden als daß er es wohl beschließe: und wird daher alles, was zu dieser Absicht unnütze ist, mit Gleichgiltigkeit ansehen. Wer oft der Ungewißheit seiner eigenen Dauer nachdenket, der wird leichtlich endecken, daß der Zustand anderer nicht dauerhafter ist, und daß, was ihm selbst nichts sehr

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wünschenswürdiges gewähren kann, dem Zustand eines Nebenbuhlers keinen großen Vorzug für denjenigen geben kann, vor welchen er den Preiß errungen hat, einen Preiß, der zu geringe ist, als daß er einen sonderlich hartnäckigten Kampf verdienen sollte!

Der Schmerz selbst, jene Leidenschaft, welcher ein tugendhaftes zärtliches Gemüht insbesondere und stärker unterworfen ist, wird durch eben diese Betrachtung gehoben oder gelindert werden. Gehoben wird er, wenn wir alle Güter unseres Zustandes mit einer beständigen Empfindung des Ungewissen Termins, während dessen sie uns verliehen sind, genießen. Wenn wir uns erinnern, daß alles, was wir besitzen, nur eine sehr kurze Zeit unser seyn, und daß diese kurze Zeit selbst, weche uns unsere lebhaftesten Hoffnungen versprechen können, durch zehentausend Zufälle noch kürzer kann gemacht werden; so werden wir uns nicht sehr über einen Verlust kränken. Dessen Wehrt wir eigentlich nicht befinden können, von dem wir aber, ob wir gleich seinen geringsten Eintrag nicht sagen können, doch den höchsten mit hinreichen der Gewißheit wissen, und überzeugt sind, daß der größeste kein sonderliches Bedauren verdienet.

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Allein, wenn irgend eine Leidenschaft sich unseres Verstandes so sehr bemächtiget, daß sie uns nicht gestattet, unsere Vortheile mit der Mäßigung zu geniessen, welche uns Vernunft und Tugend gebieten, so ist es nicht zu spät, dieses Mittel zu gebrauchen, wenn wir fühlen, daß wir unter dem Schmerzen sinken, und gewiß sind, uns über etwas zu martern, welches unwiederbringlich verschwunden ist. Wir können uns alsdann mit Nutzen auf die Ungewißheit unseres eigenen Zustandes besinnen, und auf die Thorheit, dasjenige zu bejammern, von welchem wir, wenn es ein wenig länger dageblieben wäre, selbst würden weggerissen worden seyn.

Was den empfindlichsten und peinlichsten Schmerzen betrift, der aus dem Verluste derer entstehen die wir zärtlich geliebet haben, so muß man beobachten, daß Freundschaft zwischen Sterblichen unter keinen andern Bedingungen statt finden kann, als daß der eine dereinst, des andere Tod bedauren muß; und dieser Schmerz wird allezeit dem Uiberlebenden, einen Trost geben, der seiner Traurigkeit gemäß ist. Denn, dem Kummer, wie er auch beschaffen seyn mag, den er selbst fühlet, ist sein Freund entgangen.

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Sogar die Furcht, die mächtigste und unüberwindlichste von allen unsern Leidenschaften, wird durch diese allgemeine Arzney der Seele, nicht weniger gelindert, wo nicht geheilet. So, wie die häufige Betrachtung des Todes die Eitelkeit aller menschlichen Güter, zeiget; eben so entdeckt sie auch, wie geringe und leicht alles irdische Uibel ist, welches gewißlich nicht länger dauren kann, als der Gegenstand, auf den es wirket, und der der alten Anmerkung zu Folge, allezeit desto kürzer seyn muß, je heftiger es ist. Der grausamste Jammer, den das Unglück hervorbringen kann, muß vermöge der Nohtwendigkeit der Natur, bald ein Ende nehmen. Die Seele kann nicht lange im Kerker gehalten werden, sondern fliegt davon, und läßt der menschlichen Bosheit einen leblosen Körper zurück.

Das äußerste, was wir einander drohen können, ist der Tod, den wir zwar beschleunigen, aber nicht verzögern können; und von welchem es daher einem weisen Mann nicht anständig seyn kann, eine Frist auf Kosten seiner Tugend zu erkauffen, weil er nicht weiß, wie eine kleine Portion der Zeit er erkauffen kann; die, sie sey kurz oder lang, durch das Anden-

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ken des Preises, um welche sie ist erhalten worden, einen großen Theil ihres Wechsels verlieren wird. Er weiß gewiß, daß er seine Glückseligkeit vernichtet, aber er weiß nicht gewiß, daß er sein Leben verlängert.

Wie die bekannte Kürze des Lebens, Unsere Leidenschaften mäßigen sollten, so kann sie auch mit gleichem Rechte, unsere Entwürfe einschränken. Das thätigste und mäßigste Genie, und der arbeitsamste Fleiß, haben keine Zeit, ihre Wirkungen über eine große Sphäre auszudehnen. Sich die Eroberung der Welt vorsetzen, ist die Tollheit einiger mächtigen Fürsten. Eine vorzügliche Kenntniß aller Wissenschaften zu hoffen, ist die Thorheit einiger Männer von außerordentlicher Fähigkeit, und beyde haben zuletzt gestanden, daß sie nach einer Höhe von Vorzügen geschmachtet, die der menschlichen Natur versaget ist; und daß sie viele Gelegenheiten verlohren haben, sich nützlich und glücklich zu machen, weil sie sich durch eitele Ehrsucht blenden lassen, eine Gattung von Ruhm zu erlangen, welche die ewigen Gesetze der Vorsehung keine menschlichen Kräfte erreichen lassen.

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Das Fehlschlagen der großen Entwürfe der Fürsten, wird in den Geschichten der Welt aufgezeichnet, aber, wenn sie gelesen werden, dem größern Theile des menschlichen Geschlechtes wenig nutze, weil er sich wenig um Warnungen für Fehler bekümmert, die er nicht begeben kann. Allein, das Schicksaal des gelehrten Ehrgeitzes ist ein dienlicher Gegenstand für die Betrachtung eines jeden Gelehrten. Denn, wer hat nicht Ursache gehabt, die Verschuldung großer Fähigkeiten, auf eine unumgränzte Mannigfaltigkeit von Bestrebungen zu bebauren, die plötzliche Verlassung mancher vortreflichen Entwürfe bey dem Anblicke irgend eines andern Gegenstandes, zu bejammern, den seine Neuigkeiten reitzender machten, und die Fehler und Mängel solcher Werke zu bemerken, die durch eine allzugrosse Ausdehnung des Planes sind unvollkommen gelassen worden?

Es ist allezeit ein Vergnügen zu bemerken, wie viel mehreres unser Geist entworfen, als unser Leben ausführen können. Allein, es ist unsere Pflicht, so lange wir in diesem zusammengesetzten Zustande bleiben, den einen Theil unseres Wesens durch einige Rücksicht auf den andern in Ordnung zu erhalten.

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Unsern körperlichen Begierden dürfen wir nicht mit Vergnügungen schmeicheln, welche die Stärke unseres Geistes schwächen; noch unsere Geister mit Entwürfen vergnügen, von denen wir wissen, daß unser Leben zu kurz ist, sie auszuführen.

Die Ungewißheit unserer Dauer sollte zu gleicher Zeit unsern Entwürfen Schranken setzen, und unsern Fleiß ermuntern: und wenn wir fühlen, daß wir geneigt sind, uns entweder in unermeßliche Eutwürfe zu verirren, oder in unsern Bemühungen in Faulheit und Nachläßigkeit zu sinken, sollten wir uns entweder bezäumen oder ermuntern, indem wir uns mit dem Vater der Arzneykunst erinnern, daß, „die Kunst lange, und das Leben kurz ist."

Topic revision: r11 - 27 Sep 2011, PetraZinngieser
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