Der Vernünftige Zeitvertreiber

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Betrachtung über die menschlichen Trübsaale

Das mannigfaltige Elend des menschlichen Lebens hat zu allen Zeiten eine allgemeine Klage ausgepreßt. Der Weiseste unter den Menschen beschloß alle seine Versuche, Glückseligkeit zu entdecken und zu erjagen, mit dem traurigen Bekenntniß: „daß alles, alles eitel sey, und die alten Patriarchen klagten, daß die Tage ihrer Wallfahrt wenig und böse seyen."

Es gibt in der That keinen Gegenstand, bey welchem es überflüßiger seyn könnte, Zeugnisse anzuführen, noch einen

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Satz, dessen Wahrheit unsere eigene Augen leichter entdecken, oder unsere Empfindungen häufiger und nachdrücklicher bestätigen sollten, als, daß Elend das Loos des Menschen ist, daß unser jetziger Zustand, ein Stand der Gefahr, und der Unglückseligkeit ist.

Thun wir den entferntesten Blick auf das Leben, was zeigt sich uns, als ein Chaos von Unglückseligkeit, ein vermischter und verwirrter Schauplatz von Arbeit und Kampfe, von fehlgeschlagenen Bemühungen und Hoffnungen? Mustern wir verflossene Jahrhunderte in der Betrachtung der Geschichte, was schildern sie uns als Laster und Trübsaalen? Das eine Jahr unterscheidet sich durch eine Hungersnoht, ein anderes durch ein Erdbeben. Reiche werden bald durch Kriege, bald durch Pesten verheeret. Der Friede der Welt wird bald durch die unsinnigen Einfälle eines Tyrannen, bald durch die Wuht eines Eroberers, gestöret. Das Gedächtniß ist nur mit Abwechselungen von Unglück angefüllet, und man findet, daß die geringe Glückseligkeit des einen Theiles der Menschen, gemeiniglich von blutigen Successen, und von Siegen herrühret, die ihnen die Macht geben, nicht sowohl das Leben durch irgend ei-

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nen neuen Genuß zu lindern, als andere elend zu machen, und ihrem eigenen Stolze durch eine vergleichende Grösse zu schmeicheln.

Allein, derjenige, welcher das Leben noch aufmerksamer betrachtet, wird die Glückseligkeit der Welt noch geringer finden, als sie scheinet. In einigen Zwischenzeiten öffentlicher Glückseligkeit, oder, mich richtiger auszudrücken, in einigen Unterbrechungen der Trübsaalen, kann es scheinen, daß sich eine allgemeine Glückseligkeit über ein Volk verbreite. Alles ist Triumph und Frolocken, und Freude und Uiberfluß. Dann giebt es keine öffentliche Furcht noch Gefahren, und keine Klage auf den Gassen. Allein, der Zustand einzelner Menschen wird durch diese allgemeine Ruhe sehr wenig gebessert. Pein und Bosheit, und Mißvergnügen setzen nur ihre Verehrung fort, der stille Jammer breitet sich unaufhörlich weiter aus; und das Grab wird noch immer mit Schlachtopfern des Kummers gefüllet.

Wer in eine lustige Versammlung kommt, und siehet, wie die Freude auf jedem Gesichte gemalet ist, wie jeder müßig und sorgenfrey sitzet, und auf nichts bedacht ist, als Vergnügen mitzutheilen, oder zu empfangen, sollte sich

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natürlicher Weise einbilden, er habe endlich die Residenz der Glückseligkeit, einen Platz erreichet, welcher der Fröhlichkeit des Herzens gewidmet, und von dem alle Furcht und Aengstichkeit auf immer verbannet sey. Wir finden auch in der That oft, daß dieses die Meynung derer ist, die von einem niedrigen Stande auf den Pomp und die Lustbarkeit empor sehen, die sie nicht erreichen können. Allein, wer von denen, welche diese wohllüstigen Versammlungen besuchen, wird nicht sein eigenes Mißvergnügen gestehen, oder nicht den Kummer und die Noht erzählen, die an dem Leben seiner lustigen Mitgefährten nagen?

Die Welt ist in ihrem besten Zustande, nichts mehr, als eine größere Versammlung von Wesen, die sich vereinigen, den Schein einer Glückseligkeit anzunehmen, die sie nicht fühlen, die jede Kunst und List gebrauchen, das Leben zu schminken, und ihren wahren Zustand vor einander zu verbergen.

Diejenige Gattung von Glückseligkeit, welche vor andern am leichtesten und häufigsten bemerkt wird, ist diejenige, welche von Glücksgütern abhänget: und dennoch ist auch diese selbst ein Blendwerk. In der Welt findet sich mehr Armuth, als

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man sich gemeiniglich einbildet. Nicht nur, weil viele, die ein größeres Vermögen besitzen, noch größere Begierden haben, und viele ihren Mangel nach den Vergnügen abmessen, welche andere genießen; sondern auch, weil eine grosse Menge durch wirkliche Dürftigkeit gedrückt wird, die sie sich hauptsächlich bestreben zu verhehlen; und daher genöhtiget sind, den Schein des Vermögens und der Freudigkeit, auf Kosten vieler Erleichterungen und Beqwemlichkeiten des Lebens, zu erkauffen.

Doch viele sind wirklich reich, und noch mehrere sind von aller Gefahr wirklicher Armuht weit genug entfernet. Allein man hat längst angemerket, daß sich die Ruhe nicht um Geld erkauffen läßt. Die höchsten unter den Menschen können sich keine Ausnahme von jener Uneinigkeit oder dem Argwöhne versprechen, wordurch die Süßigkeit und Armuht des Privatlebens verbittert werden, und sie müßen allezeit, je mehr sie über andere erhaben sind, auch desto mehr der Verrähterey ihrer Untergebenen, den Lästerungen der Verleumder, und der Gewaltthätigkeit ihrer Widersacher ausgesetzt seyn.

Die Trübsal ist von unserem gegenwärtigen Zustande unzertrennlich. Sie hängt

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allen Bewohnern dieser Erde, zwar in verschiedenen Proportionen, aber doch mit einem Maaße an, welches sehr wenig nach unserer eigenen Aufführung scheinet abgemessen zu seyn. Einige stolze Moralisten haben geprahlet, daß das Glück eines jeden in seiner eigenen Macht stehe: daß die Klugheit die stelle aller anderer Gottheit vertrete, und daß die Glückseligkeit die unausbleibliche Folge der Tugend sey. Aber, gewißlich der Köcher der Allmacht ist mit Pfeilen angefüllet, wider die man seinen Schild menschlicher Tugend, so sehr man ihn auch gehärtet hat, umsonst empor hält! Wir leiden nicht allezeit durch unsere Verbrechen, und wir werden nicht allzeit durch unsere Unschuld beschützet!

Ein tugendhafter Mensch ist keineswegs frey von der Gefahr, durch die Laster anderer zu leiden. Seine Tugend selbst kann ihm unversöhnliche, boshafte und hartnäckigte Feinde erregen. Der Tugendhafte hat niemals vom Himmel einen Freybrief für der Verrähterey der Freunde, dem Ungehorsame der Kinder, oder der Untreue einer Ehegattin erhalten. Er kann oft sehen, daß seine Sorgen durch Verschwendung fruchtlos gemacht, seine Lehren durch halsstarrige

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Bosheit vereitelt, und seine Zärtlichkeit durch Undank verworfen wird. Er kann unter dem Schimpfe falscher Anklagen schmachten, oder durch ein ungerechtes Urtheil schändlich zu Grunde gehen.

Ein Tugendhafter ist, wie andere Sterbliche, allen Einflüßen natürlicher Unglücksfälle unterworfen. Seine Fluren werden weder vom Wetter, noch seine Heerden von der Seuche verschonet. Sein Haus brennet wie andere in einer Feuersbrunst ab; seine Schiffe haben keine besondere Macht, den stürmen zu widerstehen; sein Geist, so erhaben er auch seyn mag, bewohnet einen Leib, der unzählichen Zufällen unterworfen ist, an deren Gefahren und Schmerzen er allezeit seinen Antheil nehmen muß. Er trägt die Saamen der Krankheit bey sich, und kann einen großen Theil seines Lebens unter den Martern des Podagra oder des Steines wegschmachten. Das einemal kann er für unerträglicher Pein seufzen, das anderemal keinen Geschmack noch Kraft, und Lust am Leben haben.

Aus dieser, allgemeinen, und unpartheyischen Vertheilung des Elendes, haben die Moralisten allezeit einen von ihren stärksten moralischen Beweisen eines künftigen Lebens hergeleitet. Denn, da

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die gemeinen Zufälle dieses gegenwärtigen Lebens dem Guten so wohl als dem Bösen begegnen; so folgen, ans der Gerechtigkeit des höchsten Wesens, daß es einen andern Zustand, und ein anderes Leben geben muß, worinn ein jeder nach Gerechtigkeit belohnet werden, und ein jeder, je nachdem er gehandelt hat, glückselig oder elend seyn soll.

Vielleicht kann sowohl die Vergleichung des Elendes des menschlichen Lebens mit der Güte Gottes, als die mit seiner Gerechtigkeit, zu einem Beweise eines künftigen Zustandes dienen. Man kann sich kaum einbilden, daß die unendliche Güte ein Wesen erschaffen sollte, welches fähig ist, so viel mehrere zu genießen, als es hier genießen kann; welches von Natur die Kraft und Fertigkeit hat, die Pein durchs Andenken zu verlängern, und sie durch Schrecken vorauszufühlen: wenn es nicht für etwas edleres und besseres als einen Zustand bestimmt wäre, worinn viele von seinen Fähigkeiten bloß zu seiner Qwal gereichen können; worinn es von Begierden gemartert wird, die es niemals befriedigen kann; worinn es viele Uibel empfindet, die es schlechterdings nicht vermeiden kann; und viele fürchtet, die es niemals fühlen wird.

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Gewißlich, es wird eine Zeit kommen, in welcher jede Fähigkeit glückselig zu seyn, soll erfüllet werden, und keiner anderst, als durch seine eigene Schuld elend seyn soll.

Mittlerweile ist es hauptsächlich die Trübsaal, welche das Herz des Menschen läutert, und seine Gedanken auf einen bessern Zustand heftet. Das Glück, so vermischt und unvollkommen es auch ist, hat die Macht, die Einbildungskraft zu berauschen, den Geist auf die gegenwärtige Scene zu heften; Stolz und Uibermuht zu erregen; und denjenigen, welcher Uiberfiuß und Ehren genießt, die Hand nicht zu malen, die sie ihm verliehen hat. Selten werden wir anderst, als durch Trübsaalen, zu einer Empfindung unserer eigenen Schwäche erweckt, oder gelehrt, wie wenig alles, was wir erwerben und erjagen können, zu unserer Sicherheit oder Ruhe beytragen kann; und mit wie vielem Rechte, wir diejenigen Güter, die wir in Muhtwillen des Glückes für die Erwerbung unserer Klugheit oder unseres Muhtes angesehen haben, der Oberaufsicht einer höheren Macht zuschreiben mögen.

Nichts hilft uns mehr die Versuchungen überwinden, wovon wir beständig

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umlagert sind, als eine beständige Betrachtung der Kürze des Lebens, und der Ungewißheit der Vergnügungen, die unsere Begierden reitzen: und diese Betrachtung kann uns bloß durch Trübsaal eingeprägt werden! „O Tod! wie bitter ist dein Andenken einem Manne, der vergnügt in seinen Gütern lebet!" Wäre unser jetziger Zustand eine ununterbrochene Folge von Vergnügungen, oder ein einförmiger Strohm von Ruhe und Wohlergehen, so würden wir niemals willig an sein Ende gedenken. Alsdann würde uns des Tod gewißlich überraschen „wie ein Dieb in der Nacht," und unser angewiesenes Tagewerk würde unvollendet bleiben, bis „die Nacht käme, worinn niemand arbeiten kann."

Immittelst da die Trübsaal uns dergestalt zur Glückseligkeit vorbereitet, so können wir uns unter ihrem Drucke, durch die Erinnerung trösten, daß sie kein besonderes Merkmal eines göttlichen Misfallens sind: weil alle Noht der Verfolgung von denen ist gelitten worden, „der die Welt nicht würdig war: und der Erlöser der Menschenselbst, ein Mann des Kummers, und mit Schmerzen bekannt gewesen ist."

Topic revision: r10 - 27 Sep 2011, PetraZinngieser
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