Der Vernünftige Zeitvertreiber
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Vermischte Gedanken
Der Mensch ist gemeiniglich gegen die erlittenen Unbilligkeiten empfindlicher, als gegen die empfangenen Wohlthaten; und die Rachsucht spornet das Gemüht gemeiniglich weit mehr an, als die Dankbarkeit. Der Grund woher dieses entstehet, ist, wie mich dünkt dieser: daß eine Beleidigung selten zweydeutig ist, da hingegen eine Gutthat nicht immer aus einem aufrichtigen Herzen entspringet. Man hat also, von der Sache überhaupt zu reden, von einem, den man beleidiget
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hat, mehr zu fürchten, als man von einem, dem man Wohlthaten erwiesen hat, hoffen kann.
Es giebt so träge, und unfruchtbare Seelen, die mit sich selbst gar nichts anzufangen wissen. Sie sind in der physischen Nohtwendigkeit, immer ein Buch in den Händen zu haben, so oft sie allein sind, und dasselbe sehr eilfertig durchzulaufen, um die lange Weile, die ihnen immer zur Seite stehet, zu zerstreuen. So bald sie ihr Buch zumachen, begegnet ihnen eben das, was in einem vom Tageslichte auf einmal erhelltem Zimmer geschiehet, in welchem eine Zauberlaterne angebracht war. Die Leinwand ist weiß, wie vorher, und man sieht von allen Figuren, und Farben, welche nach und nach auf einander folgen, nicht die mindeste Spur mehr.
Die Falschheit ist ein Laster, welches den Falschen allzeit selbst bestrafet. Wer einmal für einen Lügner gehalten wird, der hat allen Glauben, und damit auch
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alle Vortheile verloren, welche von dem uns zu erzeugenden Zutrauen abhangen. Dieses Laster machet mistrauisch, und entfernt die Menschen sehr weit voneinander. Es ist also derjenigen Güte des Herzens entgegen, welche die Seele der Gesellschaft ist. Ein wahrheitliebender, aufrichtiger Mann, giebt sich selbst Rechenschaft über seine Handlungen, und genießet beständig den süssen Trost, daß er sich vor den Augen der ganzen Welt unsträflich findet. Daher entsteht dann diejenige Stärke der Seele, und diejenige bescheidene Freymühtigkeit, welche auf dem Angesichte derjenigen abgemalt ist, die ihr Herz auf den Lippen haben.