Der Vernünftige Zeitvertreiber
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Versuch über den Menschen, aus dem Englischen des Alexander Pope
Erster Brief
Erwache therester Freund, und laß uns die ganze Scene des Menschen freymühtig durchwandern! Denn das Leben erlaubet uns nicht viel mehr, als daß wir um uns her sehen, und sterben. Diese Scene ist gewiß ein ungeheurer Labyrinth doch fehlt es ihm nicht an einem richtigen Plane. Er gleicht einer Wildniß, in welcher das Unkraut unter den Blumen wächst, oder einem Garten, in welchem uns so viel verbotene Früchte in die Versuchung führen! Laß uns untersuchen, was dieses weite Feld
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sowohl offenbar, als verborgen trägt! Laß uns die grausen Tiefen, und die schwindlichten Höhen, alles dessen, was versteckt in der Dunkelheit kriechet, oder sich über unser Gesicht hinauf schwinget, betrachten, die Wege der Natur beschauen, die Thorheiten in ihrer Flucht geißeln, und die Sitten der Zeit, so wie sie entstehen, ergreifen: lachen, wo wir müßen, aufrichtig seyn, wo wir können, doch immer die Wege Gottes gegen die Menschen rechtfertigen.
Vor allen sage mir, können wir wohl von Gott im Himmel, oder, von dem Menschen hiernieden anders schließen, als aus dem, was wir von ihnen erkennen? Sehen wir von dem Menschen wohl sonst etwas, als seinen Stand auf Erden, woraus wir schließen, und worauf sich unsere Schlüße beziehen können? Ungeachtet Gott aus unzählbaren Welten bekannt ist, so müßen wir ihn doch nur in der unsrigen aufsuchen. Der, so die weite Unendlichkeit durchschauet, und der da siehet, wie Welten an Welten ein ganzes System ausmachet, der bemerket auch, wie ein System in das andere läuft, was für andere Planeten sich um andere Sonnen wälzen, was für veränderte Wesen jeden Stern bevölkern;
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und der mag es sagen, warum uns der Schöpfer so gemacht hat, wie wir sind.— Aber, hat dein Verstand die Stützen, und Bande, die genauen Verbindungen, die feinen Unordnungen, und die richtigen Stufenfolgen dieser Maschine durchschauet? Kann ein Theil das Ganze fassen; und trägt die große Kette, die alles zusammen verbindet, und alles in der Verbindung erhalt, Gott, oder du?
Eingebildeter Mensch, du willst die Ursache wissen warum du so schwach, so klein, und so blind erschaffen bist? Errathe erst, wenn du kannst, die noch weit schwerere Ursache, warum du nicht noch schwächer, nicht noch kleiner, und blinder bist? Frage die Erde, deine Mutter, warum die Eichen höher oder stärker werden, als das Unkraut, welches sie beschatten? Oder, frage jene silbernen Felder über dir, warum die
Trabenten Jupiters kleiner sind, als
Jupiter selbst?
Wenn es ausgemacht ist, daß eine unendliche Weisheit von allen möglichen Systemen das beste erschaffen mußte, in welchem alles angefüllet, und alles was aufsteiget, in gehörigem Grade geschehen mußte: so ist es offenbar, das in der Leiter des vernünftigen Lebens, auch ein sol-
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cher Rang, als der Rang des Menschen ist, seyn mußte; und die ganze Frage, man mag auch noch so lange streiten, ist, ob ihn Gott an den unrechten Ort gesetzet habe?
Was wir in Ansehung des Menschen unrichtig nennen, kann, und muß in Beziehung auf das Ganze richtig seyn. In dem menschlichen Werken, so mühsam sie auch seyn mögen, erhalten auch tausend Bewegungen kaum einen Endzweck. In den Werken Gottes aber, kann auch eine einzige Bewegung ihren Zweck erreichen, und dennoch zur Beförderung eines andern Nutzen dienen. So scheinet der Mensch hier allein die Hauptperson zu seyn; und spielet doch gegen eine andere unbekannte Sphäre vielleicht nur die zwote Rolle, er treibet ein Rad, oder dienet zu einem Zwecke. Denn wir sehen nur einen Theil, und nicht das Ganze.
Wann das stolze Roß wissen wird, warum der Reiter itzt sein Feuer im Zügel hält, und warum er es itzt über die Felder spornet; wann der dumme Ochs erkennet, warum er itzt die Erde pflüget, itzt ein Opfer, und itzt ein Gott Aegyptens ist; dann soll auch der Stolz, und die Dummheit des Menschen, den Nu-
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tzen, und den Endzweck seiner Handlungen, seiner Leidenschaften, und seines Daseyns erkennen, und wissen, warum er bald handeln, bald leiden muß, bald gehemmt, bald fortgetrieben wird, und warum er in dieser Stunde ein Sklave, in der folgenden aber ein Gott ist.
Sage also nicht, daß der Mensch unvollkommen sey, und daß der Himmel gefehlet habe; sage vielmehr, daß er so vollkommen sey, als er seyn muß; daß seine Erkenntniß, nach seinem Stande, und Orte abgemessen, daß seine Zeit ein Augenblick, und sein Raum ein Punkt sey. Soll er nur in einer gewissen Sphäre glücklich seyn, so ist es gleich viel, oberes früh, oder spät, hier oder dort ist! Wer heute glücklich ist, ist eben so vollkommen glücklich, als wenn er es schon seit tausend Jahren wäre.
Der Himmel verbirget das Buch des Schicksals vor allen Geschöpfen. Nur ein einziges Blatt steht ihnen offen, und dieses Blatt ist ihr gegenwärtiger Zustand. Den Thieren verbirgt er was die Menschen, und den Menschen, was die Geister wissen; denn, wer würde sonst sein Daseyn auf der Welt ertragen können? — Das Lamm, welches heute deine leckerhafte Zunge zum Tode ver-
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dammet, würde es wohl hüpfen und springen, wann es deine Vernunft besäße? Bis auf den letzten Augenblick vergnügt, frißt es das blumichte Futter, und lecket die Hand, die eben ausgestreckt wird, sein Blut zu vergießen. — O! Unwissenheit der Zukunft! Dich hat der gütige Himmel darum gegeben, damit ein jeder den Kreis vollende, den er ihm vorgeschrieben hat; er, der als Gott von allem, mit gleichem Auge einen Helden sterben, oder einen Sperling fallen, Atomen, oder Systemen in den Untergang stürzen, und hier eine Wasserblase, dort eine Welt zerspringen siehet!
Hoffe demnach in Demuht, und erhebe dich auf zitternden Flügeln! Erwarte den großen Lehrer, den Tod, und behte Gott an! Was für eine Glückseligkeit deiner künftig erwartet, das läßt er dich nicht wissen; aber, er giebt dir die Hoffnung zur gegenwärtigen. Hoffnung keimet beständig in der menschlichen Brust. Der Sterbliche ist hier niemals glücklich, aber, er soll auf immer glücklich werden! Die Seele, die in sich eingeschränkt, unzufrieden ist, beruhiget sich, indem sie in ein künftiges Leben siehet!
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Siehe den armen Indianer an! Sein unmündiger Verstand siehet Gott in den Wolken, oder er höret ihn in dem Winde. Stolze Wissenschaft lehrte nie seine Seele, sich bis zur Sonnenbahn, oder zur Milchstrasse hinauf zu schwingen. Doch hat die einfältige Natur, seine Hoffnung, hinter dem mit Wolken bedeckten Hügel, einen niedrigem Himmel, eine sichrere Welt im Schatten der Wälder, und eine glücklichere Insel in der Wasserwüste gegeben, wo die Sklaven ihr väterliches Land dereinst wiedersehen, wo sie keine Feinde qwälen, und keine Christen nach Golde dürften werden. Zu seyn befriediget die Begierde seiner Natur. Er fordert nicht den Flügel des Engels, nicht das Feuer des Seraphs; sondern er glaubt, daß sein getreuer Hund, mit ihm in einen Himmel kommen, und ihm Gesellschaft leisten wird. —
Du, der du klüger bist, geh, und wäge auf der Waage deines Verstandes deine Meynung, gegen die Vorsehung ab! Nenne das Unvollkommenheit, was du dafür hältst! Sprich, hier giebt sie zu wenig, und dort zuviel. Zerstöhre alle Geschöpfe zu deiner Lust, oder nach deinem Gefallen, und rufe dennoch:
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Wenn der Mensch unglücklich ist, wenn er nicht allein alle Sorge des Himmels besitzet, nicht allein hier vollkommener, und dort unsterblich ist, so ist Gott ungerecht! Reiß ihm die Waagschaale, und den Zepter aus der Hand; richte über die Gerechtigkeit, und sey der Gott Gottes! — Aus dem Stolze, aus dem klügelnden Stolze entspringt unser Irrthum. Alles will seine Sphäre verlassen, und sich zum Himmel schwingen. Der Stolz hat sein Auge beständig auf die glückseligen Wohnungen gerichtet. Menschen wollen Engel, und die Engel wollen Götter seyn. Wenn die Engel fielen, als sie Götter werden wollten, so werden die Menschen Aufrührer, wenn sie Engel zu seyn verlangen. Selbst nur der Wunsch, die Gesetze der Ordnung umzukehren, ist eine Sünde wider den ewigen Gesetzgeber!
Frage, zu welchem Ende leuchten die himmlischen Körper? Zu welchem Nutzen ist die Erde? Der Stolz antwortet: Sie sind für mich! Für mich erweckt die gütige Natur ihre Zeugungskraft, für mich sauget sie alle Kräuter, und breitet alle Blume aus. Die Traube erneuert für mich alle Jahre ihren Nektarsaft, und die Rose ihren balsamischen Duft.
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Aus tausend Qwellen entspringt für mich die Gesundheit. Seen bewegen sich, mich fortzutragen, Sonnen gehen auf mir zu leuchten. Mein Fußschämel ist die Erde, und meine Decke der Himmel!
Aber verirret sich die Natur nicht von diesem gütigen Endzwecke, wenn der Tod von brennenden Sonnen herabsteigt, wenn das Erdbeben, oder die Stürme, Städte verschlingen, oder ganze Nationen in den Abgrund stürzen? — Nein, antwortet man, die erste allmächtige Ursache, handelt nicht nach einzelen, sondern nach allgemeinen Gesetzen. Der Ausnahmen sind nur wenig. Ein Zufall herrschte, so lang die Welt stehet; und, was ist unter den Erschaffenen vollkommen? — Gut, warum soll es denn der Mensch seyn? Wenn der große Endzweck die menschliche Glückseligkeit ist, so weichet die Natur ab; und, kann der Mensch nicht eben das? Dieser Endzweck erfordert eben so sehr eine beständige Abwechselung vom Regen und Sonneschein, als von den Begierden des Menschen; eben so sehr ewige Frühlinge, und wolkenlose Tage, als Menschen, die beständig mäßig, geruhig, und weise sind. Wann
Pest, oder Erdbeben die Absicht des Himmels nicht stören, war-
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um sollte es ein
Borgias, oder
Carilina thun? Eben der, dessen Hand den Blitz schaffet, der den Ocean empöret, und die Stürme beflügelt, eben der gießet auch den grausamen Ehrgeitz in die Seele eines Cäfars, oder läßt den jungen Amon los, die Menschen zu geißeln! — Der Stolz, ja der Stolz ist der Grund dieser Schlüße. Er erkläret moralische Zufälle eben so, wie ihr die natürlichen. Warnm tadeln wir den Himmel in jenen, und sprechen ihn in diesen frey? Sich in, beyden unterwerfen, heißt von beyden richtig urtheilen!
Viellecht möchte es uns besser zu seyn scheinen, wann hier alles Harmonie, alles Tugend wäre. Wann Luft, und Ocean niemals den Wind fühlten, und niemals eine Leidenschaft die Seele beunruhigte. Aber, alles bestehet durch den Kampf der Elemente, und die Leidenschaften sind die Elemente des Lebens. Die allgemeine Ordnung ist, seitdem die Welt entstand, in der Natur, und in dem Menschen erhalten wordrn.
Aber, was will doch dieser Mensch? Itzt will er sich erheben, und mehr, als ein Engel seyn; er, der nicht viel weniger ist. Itzt siehet er uuter sich, und bedauert es eben so sehr, daß ihm die
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Stärke des Stiers, als der Pelz des Bäres mangelt. Da alle Geschöpfe, so bald er will, zu seinem Gebrauche erschaffen sind: so sagt, was würde es ihm nützen, wann er alle die Kräfte derselben besäße? Die freygebige Natur, gab diesen, ohne Verschwendung die gehörigen Organa, und die gehörigen Kräfte; und, sie ersetzte jeden anscheinenden Mangel, hier mit größerer Geschwindigkeit, dort mit größerer Stärke, nach einem genauen Verhältniße zu ihrem Zustande. Nichts hat zu wenig, nichts zu viel! Jedes Vieh, jedes Insekt ist mit dem Empfangenen glücklich. Sollte denn der Himmel allein gegen den Menschen ungütig seyn? Und, will dieser Mensch allein, er, den wir vernünftig nennen, mit nichts vergnügt seyn, wenn er nicht mit allem beschenket wird?
Die Glückseligkeit des Menschen — könnte sein Stolz nur diese Glückseligkeit einsehen — bestehet nicht darinn, daß er über die Kräfte der menschlichen Natur handle, oder denke; nicht darinnen, daß er andere Kräfte des Leibes, oder der Seele besitze, als diejenige, die seine Natur, und sein Stand leiden können. Warum hat der Mensch kein mikroskopisches Auge? Die Ursache ist ganz
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klar. Denn, der Mensch ist keine Fliege. Würde es ihm wohl nützen, wann er ein feineres Gesicht bekommen hätte, und eine Milbe beschauen, aber den Himmel nicht betrachten könnte? Oder, was nützte ihm ein Gefühl, welches alles zitternd empfindet, und ihn in jeder Nerve schmerzen, und peinigen würde. Oder ein so feiner Geruch, da jeder Ausfluß schnell durch sein Gehirn dränge, und ihn der Geruch einer Rose tödten würde? Wann die Natur in seine offenen Ohren donnerte, und ihn mit der Musik der Sphären betäubte, wie würde er wünschen, daß der Himmel ihm nur den lispelnden Zephyr, und den rieselnden Bach gelassen hätte! — Wer findet daher die Vorsehung nicht so vollkommen gütig und weise, in dem was sie giebt, als in dem, was sie versaget?
So lang die volle Reihe der Schöpfung ist, so weit steigen auch in der Leiter die Kräfte des Leibes und der Seele! Siehe, wie sie von den grünen Myriaden in dem bevölkerten Grase, bis zum herrschenden Geschlechte des Menschen hinauf geht. Was für ein Unterschied zwischen den beyden letzten Gränzen des Gesichtes! zwischen der dunkelen Dämmerung des Maulwurfs, und dem
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hellen Gesichte des Luchses! Vom Geruche, zwischen der schnellen Löwinn, und dem Hunde, der auf dem Grase die Spur wittert! Vom Gehöre, von dem, was in den Wässern lebt, bis zu dem, was in dem Frühlinge im Walde singt! Wie ausnehmend fein ist das Gefühl der Spinne! Sie fühlt auf jedem Faden, und lebt in dem ganzen Gewebe. Was hat die zärtliche Biene nicht für einen feinen und untrüglichen Geschmack! Aus giftigen Kräutern saugt sie den heilsamen Thau. Wie verändert ist der Instinct in dem niedrigen Schweine, mit dem deinen verglichen, halb vernünftiger Elefant! Und was ist zwischen diesem, und der Vernunft für eine unmerkliche Gränze! Immer abgesondert, und dennoch immer so nahe! Wie sehr verwandt ist die Erinnerung, mit der Uiberlegung! Was für eine dünne Scheidewand trennt die Empfindung von den Gedanken? Und, wie sehnen sich die mittleren Naturen, einander zu erreichen, ohne jemals die Linie zu überschreiten, über die sie nie kommen können! Könnte wohl ohne dieses richtige Stufengefolge eines dem andern, oder alles dir unterworfen seyn? Da die Kräfte aller, dir allein unterworfen sind, so ist es ge-
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wiß, daß deine Vernunft, eine Vereinigung aller dieser Kräfte in einer sey!
Siehe, wie in dieser Luft, in diesem Oceane, in dieser Erde, aller Stof belebt, und voller Zeugungskraft ist! Wie hoch erstrecket sich der Fortgang des Lebens über uns! Wie weit um uns, und wie tief unter uns! Große Kette der Wesen! welche von Gott anhebt, ätherische, und menschliche Naturen, Engel, Mensch, Vieh, Vogel, Fisch und Insekt! Was kein Auge sehen, kein Glas erreichen kann! Vom Unendlichen bis zu dir, von dir, bis zum Nichts! — Wollten wir uns zu den höheren Wesen drängen, so würden sich die untern an uns drängen, oder in der vollen Schöpfung eine Lücke lassen. Und, wenn eine Stufe zerbrochen ist, so ist die ganze Leiter zerstöret. Was für ein Glied du auch aus der Kette der Natur hinwegnimmst, das Zehente, oder das Zehntausendste, so wird doch allzeit die Kette zerbrochen.
Und, wenn jedes System in der Stufenfolge, als ein gleich wesentlicher Theil des erstaunlichen Ganzen läuft, so muß bey der geringsten Unordnung, nicht nur dieses ganze System, sondern auch das ganze All fallen. Laß denn die Erde ohne Gleichgewicht, aus ihrer Bahn flie-
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los durch den Himmel laufen; laß die herrschenden Engel, aus ihren Sphären stürzen; Wesen an Wesen, und Welt an Welt zerscheitern; laß die ganze Grundfeste des Himmels sich zu ihrem Mittelpunkte neigen; und die Natur bis an den Trohn Gottes zittern; laß diese mächtige Ordnung vergehen! — Für wen? Für dich?— Elender Wurm! — Welche Raserey! welcher Stolz! welche Gottlosigkeit!
Wie, wenn der Fuß, der den Staub treten sollte, und die Hand, die zur Arbeit bestimmt war, das Haupt seyn wolleten? Oder, wenn das Haupt, das Auge, und das Ohr sich beklagten, daß sie der Seele zu bloßen Werkzeugen dienen müssen? Eben so thöricht ist es, wenn jeder Theil, etwas anders in dieser allgemeinen Maschine zu seyn verlanget. Eben so thöricht, sich über die Verrichtung, oder über die Mühe zu beklagen, welche die große herrschende Seele des Alls austheilte.
Alle sind nur Theile eines erstaunlichen Ganzen, dessen Leib die Natur, und dessen Seele Gott ist. Diese, in allen verändert, und dennoch in allem diesebe, so groß in der Erde, als in dem Baue des Himmels, erwärmet in der
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Sonne, kühlet im Zephyr, glüht in den Sternen, und blüht in den Bäumen. Sie lebt durch das ganze Leben, und dehnet sich durch den ganzen Raum aus. Sie verbreitet sich unzertheilet, wirket unerschöpfet, ahtmet in unserer Seele, und belebt unseren sterblichen Theil. Sie ist eben so vollkommen in einem Hahre, als in einem Herzen, eben so vollkommen in dem elenden Menschen, der da klaget, als in dem entzückten Seraphe, der da anbehtet, und brennet. Bey ihr ist nichts hoch, nichts niedrig, nichts groß, und nichts klein. Sie erfüllet, umgränzet, verbindet, und machet alles gleich.
Höre demnach auf, die Ordnung Unvollkommenheit zu nennen, denn unsere eigene Glückseligkeit beruhet auf dem, was wir tadeln. Erkenne deinen eigenen Punct! Diesen wohlgemeynten, diesen gehörigen Grad der Blindheit, und der Schwachheit, giebt dir der Himmel! Unterwirf dich! und glaube, daß du in dieser, oder einer anderen Sphäre, so glückselig seyst, als du seyn kannst. Daß du allenthalben sicher, in der Hand einer alles ordnenden Macht, in der Stunde deiner Geburt, oder in der Stunde deines Todes seyst! Die ganze
(p 337) Fehler bei den Seitenzahlen, kein Text fehlt!
Natur ist nichts als Kunst die du nicht verstehest. Aller Zufall ist eine Vorsehung, die du nicht einsiehest. Aller Mislaut ist eine Harmonie, die du nicht begreifest, und alles einzelne Uibel, ein allgemeines Gut; und, trotz dem Stolze, trotz der irrenden Vernunft, bleibt eine Wahrheit offenbar, nämlich: Alles was ist, ist recht!
Zweyter Brief
Erkenne dich demnach selbst, und unterfange dich nicht, Gott zu erforschen; denn, der rechte Gegenstand der menschlichen Erkenntniß, ist der Mensch selbst. Auf diesen Isthmus eines Mittelstandes gesetzt, dunkelweise, und auf eine grobe Art groß; mit zu viel Erkenntniß versehen den Zweiflern beyzutreten, und mit zu viel Schwachheiten erfüllet, den stoischen Stolz anzunehmen, hänget er zwischen beyden in einer steten Unentschlossenheit. Ungewiß, ob er handeln, oder ruhen, ob er sich für einen Gott, oder für ein Thier halten, und ob er seiner Seele, oder seinem Leibe den Vorzug geben soll. Er ist geboren, um zu sterben, er vernünftelt, um zu irren, und in gleicher Unwissenheit, er mag
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zu viel, oder zu wenig denken. Ein Chaos von unordentlichen Gedanken, und Leidenschaften, das sich immer selbst betrügt, und den Betrug entdeckt; erschaffen, halb zu steigen, und halb zu sinken; ein großer Herr aller Dinge, und doch ein Raub von allen. Der einzige Richter der Wahrheit, der sich in unendliche Irrthümer stürzet, der Stolz, das Spiel, und das Rähtsel der Welt! —
Geh, wunderbares Geschöpf, ersteige die Höhe, zu welcher die Wissenschaft leitet! Geh, miß die Erde, wäge die Luft, und bestimme die Ebbe und Fluht! Lehre die Planeten, in welchem Kreise sie laufen sollen! Verbessere die alte Zeit, und ordne den Lauf der Sonne. Geh, steig mit dem
Plato, in die empyräische Sphäre, zum höchsten Gute, zur höchsten Vollkommenheit, und zur höchsten Schönheit hinaus! Oder betritt den labyrinthischen Irrweg, den seine Nachfolger betraten; und nenne die Vernunft verlassen, Gott nachahmen, so, wie die morgenländischen Priester, sich schwindlicht in Kreisen laufen, und ihre Köpfe drehen, um der Sonne nachzuahmen. Geh, lehre die ewige Weisheit,
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wie sie regieren soll, und dann kehre in dich selbst zurück, und sey ein Thor!
Als jüngst die höheren Wesen, einen Sterblichen alle Gesetze der Natur entfalten sahen, bewunderten sie eine so große Weisheit in einem irdischen Geschöpfe, und ein
Newton dünkte ihnen das zu seyn, was uns ein Affe zu seyn
scheinet.
Konnte er, der den schnellen Kometen an Regeln band, auch wohl eine Bewegung seiner Seele beschreiben, und bestimmen? Der den feurigen Stern hier aufgehen, und dort untergehen sah, konnte der auch wohl seinen eigenen Anfang, oder sein Ende erklären? O! wie wunderbar! der vornehmste Theil des Menschen kann sich erheben, und von Kunst zu Kunst hinauf steigen, sobald er aber sein eigenes großes Werk beginnet, so zerreißet die Leidenschaft das, was die Vernunft webte.
Gehe demnach den Wissenschaften nach, an der Hand deiner Führerinn der Bescheidenheit. Nimm ihnen aber vorher allen Aufzug des Stolzes ab. Nimm ihnen alles was nichts mehr als Eitelkeit oder Putz, nichts, als zur Schau verschwendete, oder aus Trägheit angebrachte Gelehrsamkeit ist. Alle kleine
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Kunstgriffe, wodurch man die Größe des menschlichen Verstandes zeigen will, was bloß die Neugierde vergnüget oder sinnreich erkünstelt ist. Zernichte das Ganze, oder schneide die Auswüchse alles dessen ab, was unsere Laster zu Künsten gemacht haben. Und dann siehe, wie klein der Uiberrest bleibet, welcher den vorigen Zeiten gedienet hat, und den künftigen dienen muß.
Zwey Triebwerke herrschen in der menschlichen Natur; die Selbstliebe, fortzutreiben, und die Vernunft, zurückzuhalten. Diese nennen wir so wenig einen guten, als jene einen bösen Grundtrieb. Jeder wirket nach seiner Absicht, entweder zu bewegen, oder zu regieren; und ihrer unrichtigen Wirkung schreiben wir immer alles Böse, so, wie ihrer richtigen, alles Gute zu.
Die Selbstliebe, die Triebfeder der Bewegung, treibet die Seele fort, und die Vernunft mit ihrer vergleichenden Wagschaale, regieret das Ganze. Ohne jene könnte der Mensch gar nicht handeln, und ohne diese, würde er ohne Absicht handeln. Gleich einer Pflanze, auf seinem eigenthümlichen Flecke befestiget, würde er entweder die Nahrung einziehen, sich fortpflanzen, und verfaulen,
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oder, gleich einem Meteor, regellos durch den leeren Raum flammen, andere zerstören, und durch sich selbst zerstöret werden.
Der bewegende Grundtrieb, hat der größten Stärke nöhtig. Seine Verrichtung ist thätig, er reitzet, treibet, und beseelet. Das vergleichende Vermögen liegt ruhig, und stille, und sein Ammt ist, nur zurückzuhalten, zu überlegen, und zu rahten. Die Selbstliebe wird immer stärker, je näher ihre Vorwürfe sind, und die Gegenstände der Vernunft, liegen in einer entfernten Aussicht. Jene erkennet ein unmittelbares Gut, durch die gegenwärtige Empfindung, und die Vernunft, siehet das Künftige, mit seinen Folgen. Die Versuchungen drängen sich zahlreicher ein, als die Gründe; und die Vernunft ist, wann es hoch kömmt, wachsamer, aber die Eigenliebe ist weit stärker. Damit ihr nun die Wirkungen der stärkeren verhindern möget, so bedienet euch immer der Vernunft, und gehorchet derselben. Die Aufmerksamkeit gewinnet endlich Fertigkeit und Erfahrung, und jede derselben stärket die Vernunft, und schränket die Selbstliebe ein. Die spitzfindigen Schulweisen, die lieber trennen, als verbinden, mögen
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diese Feindinnen zum Streiten bringen, und mit aller unbedachtsamen Fertigkeit des Witzes, Gnade und Tugend, Sinne und Vernunft entzweyen. Witzlinge und Thoren streiten sehr oft über einen Namen, wobey sie entweder einerley, oder gar nichts denken. Selbstliebe und Vernunft arbeiten gemeinschaftlich zu einem Endzwecke, sie scheuen den Schmerz, und streben dem Vergnügen nach. Nur die erstere möchte ihren Gegenstand gerne verschlingen, da die andere allem den Honig zu kosten wünscht, ohne die Blume zu verletzen. Das Vergnügen ist immer, recht verstanden, unser größtes Gut, unrecht aber, unser größtes Uibel.
Wir können die Leidenschaften Arten der Selbstliebe nennen. Ein wahres, oder ein scheinbares Gut, setzt sie alle in Bewegung. Weil wir aber jedes Gut nicht theilen können, und weil die Vernunft uns für uns selbst zu sorgen heißt, so stellen sich auch die Leidenschaften die auf uns selbst gehen, unter die Fahne der Vernunft, und verdienen, wenn ihre Mittel gut sind, ihre Aufsicht. Diejenigen, die anderen mittheilen streben nach einem edleren Zwecke sie verschönern ihre Art, und nehmen den Namen einer Tugend an.
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Die Stoiker mögen sich ihrer trägen und unempfindlichen Tugend rühmen. Sie ist wie durch einen Frost zusammen gezogen, und im Herzen eingeschränket. Aber die Stärke der Seele besteht in der Uibung, nicht in der Ruhe. Der aufsteigende Sturm setzt die Seele in Thätigkeit, und wenn er auch einige Theile zerstöret, so erhält er doch das Ganze. Wir seegeln verschiedentlich auf dem weiten Oceane des Lebens. Die Vernunft ist die Karte, und die Leidenschaft ist der Wind. Gott selbst wandelt nicht immer in der ruhigen Stille, er erhebt sich auch auf dem Sturme, und geht in den Winden daher.
Zwar die Leidenschaften sind, gleich den Elementen, zum Streiten erschaffen, doch vereinigen sie sich vermischt, und gemäßigt in den Werken Gottes. Es ist genug sie zu mäßigen, und zum Nutzen anzuwenden; aber, kann der Mensch wohl das zerstören, woraus er bestehet? — Begnüge dich, wenn sich nur die Vernunft auf der Bahne der Natur erhält, sich die Leidenschaften unterwirft, und ordnet, und ihr, und Gott folget! Liebe Hoffnung, und Freude, das lachende Gefolge des Vergnügens; Haß, Furcht, und Gram, die Geschwister des
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Schmerzens, wenn sie künstlich vermischet und in gehörige Gränzen eingeschränket werden, machen, und erhalten das Gleichgewicht der Seele. Sie sind das Licht, und der Schatten, deren wohlangelegter Contrast, unserm Leben alle Stärke, und alles Colorit giebt.
Das Vergnügen ist beständig, entweder in unserer Hand, oder in unseren Augen. Ein neues tritt in der Hoffnung wieder auf, wenn ein wirkliches verschwindet. Das gegenwärtige zu ergreifen, und das künftige immer aufzusuchen, ist die ganze Beschäftigung des Leibes, und der Seele. Alle biehten ihre Reitzungen an, aber, nicht alle reitzen auf gleiche Weise. Ein Gegenstand wirkt auf diesen, ein anderer auf einen anderen Sinn. Daher entzünden uns verschiedene Leidenschaften, nachdem die Organa der Sinne stark, oder schwach, mehr oder weniger sind; und daher verschlingt eine herrschende Leidenschaft, wie die
Schlange Aarons, die andern alle.
So vielleicht, wie der Mensch, in dem Augenblicke, in welchem er zu leben beginnet, den verborgenen Saamen des Todes empfängt. — So, wie die junge Krankheit, die ihn endlich überwältigen soll, mit ihm wächst, und mit ihm
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stärker wird, eben so ward auch die Krankheit der Seele die herrschende Leidenschaft des Menschen, in seine Natur gelegt, und mit ihr vermischet. Jeder Lebenssaft, der den ganzen Menschen nähren sollte, fließet gar bald nach diesem kranken Theile, des Leibes sowohl, als der Seele. Die Einbildungskraft, verrichtet ihre gefährliche Kunst, und giesset alles, was das Herz erhitzet, oder den Kopf erfüllet, dahin, so, wie sich die Seele mehr und mehr eröfnet, und ihre Kräfte entwickelt.
Die Natur ist die Mutter, die Gewohnheit aber die Amme derselben. Witz, Verstand, und andere Kräfte, machen sie nur noch schlimmer. Die Vernunft selbst giebt ihr nur Stärke, und Schärfe, so, wie der milde Stral des Himmels den Eßig nur säurer macht.
Wir, elende Unterthanen, ihrer, wiewohl rechtmäßigen Herrschaft, gehorchen in dieser schwachen Königinn, immer einer ihrer Günstlinginn! Ach! wenn sie uns nicht eben sowohl Waffen, als Regeln giebt, was kann sie denn mehr, als uns sagen, daß wir Thoren sind. Was mehr, als uns unsere Natur beklagen, nicht verbessern zu lehren, und unsre
scharfe Anklägerinn, aber hilflose Freun-
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dinn zu seyn! Oder, was kann sie mehr, als aus einer Richterinn eine Versprecherinn werden, um uns zu der Wahl zu bereden, die wir machen, oder sie zu rechtfertigen, wenn sie schon gemacht ist. Stolz auf einen leichten Sieg, schaffet sie nur eine schwache Leidenschaft weg, um einer größeren Platz zu machen, so, wie ein Arzt glaubet, geringe Flüße vertrieben zu haben, wenn sie zur, Gicht geworden sind.
Ja, der Weg der Natur ist immer der beßte! Auf diesem ist die Vernunft nicht unsere Führerinn, sondern unsere Bedeckung. Sie muß dieser Leidenschaft immer die beste Richtung geben, sie aber nicht unterdrücken, und mehr freundschaftlich, als feindselig mit ihr umgehen. Eine mächtigere Gewalt sendet den starken Trieb, und treibet verschiedene Menschen zu verschiedenen Zwecken. Wenn er von anderen Leidenschaften, wie von Winden herumgeworfen wird, so treibet ihn doch die herrschende beständig an ein gewisses Ufer. Es mag ihm Gewalt, oder Gelehrsamkeit, Gold, oder Ehre, oder was meist noch stärker, als alles dieses ist, die Liebe zur Musse gefallen, so folgt er doch seinem Triebe sein Lebenlang, selbst auf die Kosten des Le-
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Lebens; und sowohl die Arbeit des Kaufmanns, die Musse des Weisen, die Demuht des Bürgers, der Stolz des Helden — alle diese finden die Vernunft auf ihrer Seite.
Die Kunst des Ewigen, die aus Bösem Gutes ziehet, pfropft auf diese Leidenschaft unsern beßten Grundsatz. Hierdurch wird der
Mercurius in den Menschen gesetzet, die mit seiner Natur vermischte Tugend stärker, die Schlacken verbinden das, was sonst zu fein seyn würde, und Leib, und Seele handeln zu einem Interesse.
Wie Zweige, sonst gegen die Pflege des Pflanzers undankbar, auf wilde Stämme gepfropfet, anfangen zu tragen: so schießen die sichersten Tugenden aus den Leidenschaften auf, indem die Stärke der wilden Natur, auf die Wurzel wirket. Was für Erndten von Witz, und Redlichkeit erwachsen nicht aus Haß, Zorn, Furcht und Eigensinn! Siehe, wie der Zorn, Eifer, und Tapferkeit; wie selbst der Geitz, Klugheit; und die Trägheit, Philosophie gebieret! Die Wohllust wird, durch gewisse Seigen geläutert, zur artigen Liebe, und nimmt schöne Geschlecht ein. Der Neid, dem eine unedle Seele, sklavisch dienet,
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wird bey dem Gelehrten, und Helden zur Nacheiferung. Ja, wir können keine männliche, oder weibliche Tugend nennen, die nicht aus Schaam, oder Stolz erwüchse.
Also giebt uns die Natur, — laßt dieses einen Zaum für unsern Stolz seyn! — diejenige Tugend, die mit unseren Lastern am nächsten verwandt ist. Die Vernunft lenket den Hang des Bösen, zum Guten, und
Nero kann, wenn er will, wie ein
Titus regieren. Die trotzige Seele, die wir in dem
Catilina Verabscheuen, reißet in dem
Decius, und ist in dem
Curtius göttlich. Der nämliche Ehrgeitz kann zerstören, oder retten, und machet eben so gut einen Patrioten, als einen Verrähter.
Wer wird nun dieses Licht, welches in unserem Chaos mit Finsterniß verbunden ist, scheiden? der Gott in unserer Seele!
Streitige Dinge bringen in der Natur, gleiche Endzwecke hervor, und vereinigen sich in dem Menschen, noch zu einem geheimen Nutzen, obgleich wechselweise eines in die Gränzen des andern fällt, wie in einem wohlgemachten Gemälde Licht, und Schatten; und, ob sie sich gleich oft so vermischen, daß man
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den Unterscheid, wo die Tugend aufhöret, und das Laster beginnet, nicht bemerken kann.
Thoren lassen sich deswegen zu der Meynung verleiten, es sey gar kein Laster, und gar keine Tugend. — Weil Weiß, und Schwarz, sich vermischen, vertreiben, und tausendfach vereinigen läßt, giebt es deswegen kein Weiß, und Schwarz? Fragt nur euer eigenes Herz! Nichts ist klärer. Sie zu vermischen braucht man sonst nichts, als Zeit, und Mühe.
Das Laster ist ein Ungeheuer von so schrecklicher Gestalt, daß man es nur sehen darf, um es zu hassen. Wenn wir es aber gar zu oft sehen, so werden wir mit seiner Gestalt bekannt. Anfänglich wird es uns leidlich, dann erregt es uns Mitleiden, und endlich umarmen wir es. — Aber, wo das äußerste Laster sey, ist noch nicht ausgemacht. — Frag, wo ist Norden? In
York, an dem
Tweed, in Schottland, in den
Orcaden, in
Grönland, in
Zembla, oder, Gott weis wo! — Kein Mensch gestehet, daß er das Laster im höchsten Grade besitze; und jeder glaubt, daß sein Nachbar lasterhafter sey, als er. Selbst diejenigen, die gerade unter seiner Zone wohnen, fühlen entweder seine Wuht gar nicht, oder
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gestehen es doch nicht. Der verhärtete Einwohner behauptet, das sey recht, was glücklichere Gemühter schon durch das bloße Ansehen in Schrecken setzet.
Jeder Mensch muß tugendhaft und lasterhaft seyn, wenige zwar äußerst, aber doch alle in einem gewissen Grade. Der Schelm, und der Narr, hat kluge, und gute Zufälle, und selbst der Beste thut zuweilen das, was er verachtet. — Wir folgen dem Guten oder Bösen nur stückweise, denn die Selbstliebe leitet entweder zum Laster, oder zur Tugend. Jeder strebet nach einem besonderen Ziele, aber, die große Absicht des Himmels ist nur eine, nämlich das Ganze. Diese widerstrebet jeder Thorheit, jedem Eigensinne. Diese vernichtet die Wirkung von jedem Laster. Diese gab jedem Stande glückliche Schwachheiten, der Jungfrau die Schaam, der Matrone den Stolz, dem Staatsmanne die Furcht, dem Heerführer die Kühnheit, und dem Pöbel den Glauben. Diese kann Endzwecke der Tugend aus der Eitelkeit erzeugen, die keinen andern Vortheil, und keine andere Belohnung, als das Lob suchet; und diese kann auf Bedürfnisse und auf Fehler der Seele, die Freude,
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den Frieden, und die Herrlichkeit der Menschen bauen.
Der Himmel, der eines, um des andern Willen erschuf, der den zum Herrn, jenen zum Knechte, diesen zum Freunde machte, der hieß jedem von den andern so lange Hilfe fordern, bis die Schwäche des einen, die Stärke aller wird. Mängel, Schwachheiten, und Leidenschaften, verbinden entweder das gemeinschaftliche Interesse noch mehr, oder sie machen das Band noch angenehmer. Diesen haben wir wahre Freundschaft, aufrichtige Liebe, und jede innig gefühlte Freude, die dem Leben hier zugedacht ist, zu verdanken. Aber, von eben diesen lernen wir auch, diesen Freuden, dieser Liebe, nnd diesen Vortheilen, am Ende des Lebens zu entsagen. Halb von der Vernunft, und halb von dem blossen Abgange der Kräfte unterrichtet, lernen wir den Tod bewillkommen, und ruhig sterben.
Niemand will mit seinem Nachbar tauschen, es mag nun Gelehrsamkeit, Ruhm, oder Geld seine Leidenschaft seyn. Der Gelehrte ist glücklich, daß er die Natur erforschet, der Thor ist glücklich, daß er nicht mehr weis. Der Reiche ist glücklich in seinem Uiberfiusse, und der Arme begnüget sich mit der Vorsorge des Him-
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mels! — Siehe, der blinde Bettler tanzet, der Krüppel singet! der Betrunkene dünkt sich ein Held, und der Träumer ein König zu seyn. Der verhungernde Themist, ist in seinen goldenen Hoffnungen, und der Dichter mit seiner Muse am glücklichsten! —
Siehe, ein bewundernswürdiger Trost begleitet jedweden Stand, und allen ist der Stolz, dieser gemeinschaftliche Freund gegeben! — Siehe, jedwedes Alter hat eine angemessene Leidenschaft! Die Hoffnung wandert beständig mit uns, und sie verläßt uns auch dann nicht, wenn wir die Welt verlassen müßen!
Betrachte das Kind! Nach der gütigen Fügung der Natur vergnügt es sich an einer Klapper, und freuet sich über eine Puppe. Ein etwas lebhafteres Spielzeug, von gleich schlechtem Wehrte, nur etwas ranschender, vergnügt noch den Jüngling. Scherpfen, Ordensbänder belustigen den Mann, und die Werkzeuge der Andacht, sind die Beschäftigung des Greises. Mit diesen Kleinigkeiten noch immer so sehr vergnügt, als vorhin mit den andern, schläft er endlich ermüdet ein, und so ist das elende Spiel des Lebens zu Ende. Inzwischen vergoldet die Meynung mit abwechselnden
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Stralen die bunten Wolken, welche unsere Tage verschönern. Jeder Mangel an der Glückseligkeit ist durch die Hoffnung, und jede Lücke des Verstandes durch den Stolz ersetzt. Diese bauen so geschwind auf, als die Einsicht niederreißet. Beständig fort lacht die Perl, Freude in den Bächer der Thorheit. Wenn eine Aussicht verschwindet, so kömmt gleich wieder eine andere zum Vorscheine, und nicht eine einzige Eitelkeit ist uns umsonst gegeben. Selbst die Eigenliebe wird durch göttliche Vermittelung der Maasstab, die Mängel anderer gegen die deinigen zu messen. Betrachte dieses, und bekenne, daß dir noch immer ein Trost bleibt, dieser nämlich: Obgleich der Mensch ein Thor ist: so ist doch Gott weise!
(Wird fortgesetzt.)