Der Vernünftige Zeitvertreiber
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Das menschliche Leben unter dem Bilde einer Tagreise
Obida, der Sohn des Abensina, verließ das Carvanserai des Morgens frühe, und verfolgte seine Reise durch die Gefilde von
Indostan. Er hatte ausgeruhet, war frisch und munter, von Hoffnung belebt, von Begierde befeuret. Er lief geschwinde durch die Tähler, und sahe die Hügel vor ihm sich Stuffenweise erhöhen. Mittlerweile wurden seine Ohren durch das Morgenlied des Paradiesvogels bezaubert; er wurde von den letzten Düften des sinkenden Westwindes gekühlet, und durch Gewürzhayne mit Thaue
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benetzet. Bisweilen betrachtete er die aufgethürmte Höhe der Eiche, diese Fürstinn der Berge; und bisweilen fieng er den sanften Duft der Prinrose, der ältesten Tochter des Frühlinges, auf. Alle seine Sinnen waren vergnüget, und alle Sorge war aus seinem Herzen verbannet.
Auf diese Art gieng er fort, bis sich die Sonne dem Mittag näherte, und die überhandnehmende Hitze seine Kräfte verzehrte. Alsdenn sah er sich nach irgend einem beqwemeren Pfade um. Auf seiner rechten Hand erblickte er einen Hayn, dessen schwebende Schatten ihn gleichsam einzuladen schienen; er gieng hinein, und fand die Kühle und das Grün, ohnwiderstehlich angenehm. Indessen vergaß er doch nicht, wohin er reisen wollte, sondern fand einen engen mit Blumen begränzten Pfad, der eben dahin zu führen schien, wie die Hauptstrasse: und er war froh, daß er durch diesen glücklichen Versuch, Mittel gefunden hatte, die Vergnügen mit den Geschäften zu verbinden, und die Belohnungen des Fleisses zu gewinnen, ohne die Abmattung desselben zu dulden. Er fuhr daher fort, noch eine Zeit lang, ohne die geringste Nachlassung seines Eifers, fortzugehen: außer daß er bisweilen durch den Gesang
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der Vögel, so die Hitze im Schatten versammlet hatte, versucht wurde, etwas anzuhalten, und sich bisweilen mit dem Pflücken der Blumen, womit die beyden Seiten des Pfades besetzt waren, oder der Früchte aufhielte, die an den Zweigen hiengen. Endlich fieng der grüne Pfad an, von seiner ersten Richtung abzuweichen, und sich zwischen Hügeln und Gebüschen zu verwickeln, die von Brunnen gekühlet wurden, und von Wasserfällen murmelten. Hier stund Obida einige Zeit lang stille, und fieng an, zu erwägen, ob es noch länger rahtsam sey, die bekannte und gemeine Strasse zu verlassen. Als er sich aber erinnerte, daß die Hitze nunmehr am heftigsten, und die Ebene staubigt, und beschwerlich war, so beschloß er, dem neuen Pfade nachzugehen, wovon er glaubte, daß er nur einige Wendungen wegen des abwechselnden und unebenen Bodens machte, und doch zuletzt sich auf die gemeine Strasse endigen wurde.
Als er seine Sorge dergestalt gestillet hatte, erneuerte er seinen Schritt, ohnerachtet er vermuhtete, daß er nicht weiter käme. Diese Unruhe seines Gemühtes verleitete ihn, sich bey jedem neuen Gegenstande aufzuhalten, und sich jeder
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Empfindung zu überlassen, die ihn ergötzen oder erheitern konnte. Er horchte auf jedes Echo; bestieg jeden Hügel, um eine neue Aussicht zu finden; besahe jeden Wasserfall; und ergötzte sich damit, daß er einen sanften Flusse nachgieng, der zwischen den Blumen dahin floß, und eine weite Gegend mit unzähligen Krümmungen bewässerte. Unter diesen Zeitvertreiben verstrichen die Stunden ohngezählet: seine Umwege hatten sein Gedächtniß verwirret, und er wußte nicht mehr, nach welcher Gegend zu, er seinen Weg nehmen mußte. Er stund in Gedanken und Verwirrung: er fürchtete sich weiter fortzugehen, aus Furcht, er möchte auf einem irrigen Wege seyn: und doch wußte er, daß die Zeit zu verweilen, nunmehr verstrichen war. Indem er von dieser Ungewißheit gefoltert wurde, ward der Himmel mit Wolken überzogen: der Tag verschwand vor ihm; und ein plötzliches Wetter zog sich über seinem Haupte zusammen. Er wurde nunmehr durch seine Gefahr zu einer schnellen und schmerzlichen Erinnerung seiner Thorheit erwecket: er sahe nunmehr, daß man die Glückseligkeit verlieret, wenn man die Gemächlichkeit suchet. Er bejammerte die weichliche Ungeduld,
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die ihn bewogen hatte, sich in den Hayn zu flüchten, und verachtete die niedrige Neubegierde, die ihn von einer Kleinigkeit zur andern geführet hatte. Unter diesen Gedanken, wurde die Luft finsterer, und ein Donnerschlag unterbrach sein Nachsinnen.
Er beschloß hierauf, zu thun, was noch in seinen Kräften stund; die Gegenden, so er durchgegangen, wider zurück zu gehen, und zu versuchen, ob er nicht irgend einen Ausgang finden könnte, wo das Gehölze sich in die freye Ebene öfnete. Er fiel auf den Boden nieder, und empfahl sein Leben dem Herrn der Natur. Er stund mit Zuversicht und Beruhigung auf, und drang mit seinem Säbel in der Hand fort; denn die Thiere der Wüsten waren in Bewegung, und auf jeder Seite hörete er das vermischte Geheule der Wuht und der Furcht, der Verheerung und des Todes. Alle Schrecken der Finsterniß und der Einsamkeit umlagerten ihn. Die Winde brülleten in den Wäldern, und die Ströme donnerten von den Bergen herab.
In dieser Noht und Angst durchwanderte er die Wüste, ohne zu wissen, wohin er gieng, oder ob er jeden Augenblick der Sicherheit oder dem Untergange
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näher kam. Zuletzt fieng nicht die Furcht, sondern die Mattigkeit an, ihn zu überwältigen. Sein Ahtem wurde kurz; seine Kniee wankten; und er wollte sich eben in Gelassenheit niederlegen und seinem Schicksale überlassen, als er durch die Gesträuche den Schimmer eines Lichtes erblickte. Er näherte sich dem Lichte: fand, daß es von der Hütte eines Einsiedlers herkam, rufte demühtig an der Thüre, und wurde eingelassen. Der Greiß setzte ihm Lebensmittel vor, die er für sich selbst gesammelt hatte, und an welchen sich Obida mit Entzücken und Dankbarkeit labte.
Als die Mahlzeit vorüber war, sprach der Einsiedler zu ihm: „Sage mir, durch welchen Zufall bist du hieher gekommen? ich habe nunmehr zwanzig Jahre in der Wüsten gewohnet, und zuvor nie einen, Menschen darinn gesehen." Obida erzählete hierauf die Begebenheiten seiner Reise, ohne das geringste zu verhehlen oder zu bemänteln.
„Sohn, sagte der Einsiedler, laß die Irrthüme rund Tohrheiten, die Gefahren, und die Rettung dieses Tages tief in dein Herz sinken. Erinnere dich, mein Sohn, daß das menschliche Leben eine Tagereise ist. Wir stehen am
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Morgen unserer Jugend, voller Munterkeit und voller Erwartung, auf. ̶ Wir treten unsere Reise mit Eifer und Hoffnung, mit Freude und Emsigkeit an; und reisen eine Weile auf der geraden Strasse der Frömmigkeit nach denen Wohnungen der Ruhe. In kurzer Zeit, erkaltet unser Eifer: wir bestreben uns, irgend eine Linderung unserer Pflicht, irgend einige beqwemere Mittel auszufinden, eben dieselbe Absicht zu erreichen. Alsdenn nimmt unsere Stärke ab; wir beschliessen, uns von keinen entfernten Lastern länger, schrecken zu lassen, sondern auf unsere, eigene Standhaftigkeit zu trauen, und wagen es, uns demjenigen zu nähern, was wir entschlossen sind, niemals zu berühren. Also gehen wir in die Hayne der Gemächlichkeit, und ruhen im Schatten der Sicherheit. Hier wird unser Herz weichlich; die Wachsamkeit nimmt ab; alsdenn wollen wir nachforschen, ob es keinen andern Weg gäbe; und ob wir nicht wenigstens unsere Augen auf die Gärten der Wohllust wenden, dürfen. Wir nähern uns denselben mit Scrupeln und Zaubern; gehen hinein aber furchtsam und zitternd, und hoffen immer, sie durchzuwandern, ohne
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den Weg dee Tugend zu verlieren, den wir einige Zeit lang, im Gesichte behalten, und zu dem wir willens sind, wieder umzukehren. Allein eine Versuchung folget auf die andere; eine Schwachheit bereitet uns auf eine andere: in kurzem verlieren wir die Glückseligkeit der Unschuld; und schläfern unsere Unruhe durch sinnliche Vergnügungen ein. Nach und nach lassen wir die Erinnerung unseres ersten Vorsatzes fahren, und verlassen den einzigen würdigen Gegenstand unserer Wünsche. Wir verwickeln uns in Geschäfte, versenken uns in Wohllüste, und schwärmen durch die Labyrinthe der Unbeständigkeit, bis die Finsterniß des hohen Alters herein bricht, und Angst und Krankheit unsern Weg verhauen. Alsdenn sehen wir mit Schrecken, mit Kummer, mit Reue auf unser Leben zurücke; und wünschen, aber wünschen zu oft vergeblich, daß wir den Weg der Tugend niemals verlassen hätten. — Glückselig sind diejenigen, mein Sohn, die aus deinem Beyspiele lernen, nicht zu verzagen; sondern sich erinnern, daß obgleich der Tag vorbey, und ihre Kräfte verschwendet sind, ihnen doch noch ein Bestreben übrig bleibt: daß die
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Besserung niemals ohne Hoffnung, daß, aufrichtige Bemühungen niemals ohne Hilfe bleiben; daß der Wanderer nach allen seinen Irrthümern zuletzt widerkehren kann, und derjenige, der Kräfte und Muht von oben erflehet, finden wird, daß Gefahr und Schwierigkeit für ihm weichen müssen. ̶ Gehe nun zu deiner Ruhe, mein Sohn; überlasse dich der Vorsorge des Allmächtigen; und wenn dich der Morgen zu neuer Arbeit ruft, so fange deine Reife und dem Leben von neuem an.“