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XXIV.
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Erste Fortsetzung der Geschichte der Virginia.
Die ganze Versammlung schrie gegen die Ungerechtigkeit dieses Urtheils Auf allen Seiten hörte man nichts als Klagen und Murren. Besonders drangen sich die Weiber , mit Trähnen in den Augen, um die Virginia her, und stellten dieselbe mitten unter sich, um ihr gleichsam zu einer Schutzwehre zu dienen. Aber
Claudius, der so wohl ihr Schreyen als Bitten verachtete, wollte sie fortreißen ; als
Icilius, dem sie versprochen war, mit Grimm und Wuht in den Augen, auf den Richtplatz ankam.
Appius, welcher sich für dem Credite fürchtete, den jener über die Gemühter des Volkes hatte, ließ ihm durch einen Gerichtsdiener sagen: er sollte sich weg begeben, indem die Sache bereits
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entschieden sey. Aber Icilius, welchen seine Leidenschaft rasend machte, und der von den schlimmen Absichten des Appius unterrichtet war, den er als einen verhaßten Nebenbuhler betrachtete, sprach zu ihm. Du mußt mir zuvor das Leben entreißen, ehe du die Frucht deiner Ränke und deiner Tyranney genießen kannst! Es kann dir nicht unbekannt seyn, daß Virginia mit mir verlobet ist : ich soll eine Jungfrau, und eine Tochter von freyem Stande heurahten; ich will sie anders nicht als von den Händen ihres Vaters empfangen. Wenn man in seiner Abwesenheit sich gelüsten läßt, ihr Gewalt anzuthun, so will ich für meine Braut das gesammte römische Volk um Hilfe anflehen.
Virginius wird für seine Tochter den Beystand aller Soldaten verlangen, und die Götter und die Menschen werden uns günstig seyn. Aber wenn ich auch ganz allein wäre, so wird die Gerechtigkeit und eine erlaubte Liebe mir Kräfte genug verleihen, um mich der Vollstreckung deines ungerechten Urtheils zu widersetzen! Das Volk, durch sein Unglück sowohl als durch den Muht, den er blicken ließ, gleichmäßig gerühret, stößt und jaget den Claudius zurück, der sich
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zu den Füßen des Appius flüchtet. Die Versammlung war voller Bestürzung, und in der größten Bewegung. Der Auflauf vermehrte sich durch die Ankunft derer, welche sich aus verschiedenen Gegenden der Stadt auf den Gerichtsplatz begaben. Der Decemvir, welcher den Ausbruch einer offenbaren Empörung befürchtete, faßte den Entschluß, die Vollziehung seines Urtheils selber auf zuschieben. Man weiß zur Genüge, sprach er, daß Icilius weiter nichts suchet, als einen Aufruhr zu erregen; um ihm aber allen Vorwand zu benehmen, so lasse ich mirs gefallen, die Rückkunft des Virginius bis morgen abzuwarten. Seine Freunde mögen Sorge tragen, ihn davon zu benachrichtigen: man braucht nicht mehr als vier Stunden, um sich von hier in das Lager zu verfügen. Ich will den Claudius vermögen, daß er in Betrachtung des Friedens und der öffentlichen Ruhe von seinem Rechte etwas nachgeben, und darein willigen soll, daß dieses Mägdchen bis zur Rückkehr desjenigen, den es für seinen Vater halt, in Freyheit bleibe.
Claudius, der sich anstellte, als ob es ihm Mühe kostete, diese Frist zu bewilligen, verlangte, Icilius sollte
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wenigstens Gewährschaft geben , daß er des folgenden Tages die Virginia wieder vor Gericht stellen würde. Das Volk hob sogleich auf allen Seiten die Hände empor, und jedermann boht sich mit Begierde zum Bürgen an. Icilius wurde durch die Zuneigung seiner Mitbürger gerühret, und nachdem er ihnen dafür seine Erkenntlichkeit bezeuget hatte, sprach er zu ihnen: Wir wollen uns morgen eures Beystandes bedienen, wenn Claudius von seiner ungerechten Anforderung nicht abstehet; aber für heute hoffe ich, daß man sich mit meiner Bürgschaft und der Gewährleistung aller Verwandten der Virginia begnügen werde.
Appius, ob er gleich durch seine Leidenschaft aufgebracht war, unterstund sich doch nicht, eine solche Bürgschaft auszuschlagen: weil er aber die Rückkehr des Virginius fürchtete; so fertigte er ins geheim einen Bohten an seine Amtsgenossen ab, welche dem Kriegsheere vorstunden, um sie zu ersuchen, den Virginius unter irgend einem Vorwande anhalten zu lassen, und ihm wenigstens keinen Urlaub zu ertheilen, nach Rom zu gehen. Er schmeichelte sich, daß, sofern jener ermangeln sollte, auf die gesetzte Zeit zu erscheinen, er alsdann
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berechtiget seyn würde, seine Tochter in die Hände des Claudius zu überantworten; aber sein Geschwindreiter kam zu spät in dem Lager an. Die Söhne des
Numitorius und ein Bruder des
Virginius waren ihm zuvor gekommen, und hatten den Virginius bereits von der Gefahr unterrichtet, darinnen seine Tochter schwebte. Dieser Römer, welcher klärlich sah, daß die Wohlfahrt seiner Tochter von seiner Rückkehr nach Rom abhieng, hatte vor der Ankunft des Bohten des Appius seinen Urlaub erhalten, und sich auf den Weg gemacht. Die Decemvirs hatten den Brief ihres Mit¬genossen kaum empfangen, so schickten sie dem Virginius einige Reiter nach, um ihn anzuhalten. Appius hatte seiner Seits in gleicher Absicht etliche auf den Weg gestellt, der nach dem Lager führte; aber alle diese Vorsichtigkeiten waren vergeblich, und Virginius, welcher sie voraus gesehen hatte, wich von der wöhnlichen Strasse ab, und zog sich durch ein Thor in die Stadt, welches dem, so auf das römische Lager stieß, ganz entgegen stund.
Des folgenden Tages erschien er von Schmerz durchdrungen auf dem Richtplatze, und hielt seine Tochter an der
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Hand, welche in Trähnen zerftoß. Sie ward von ihren Anverwandten begleitet, die dem Volke in den beweglichsten Ausdrücken vorstellten, ob es recht wäre, daß, indem ein soguter Bürger für die Vertheidigung seines Vaterlandes alles wagte, seine Kinder zu Hause noch weit größern Beschimpfungen ausgesetzt seyn sollten, als wenn die Stadt den Feinden in die Hände gefallen wäre. Virginius sagte ohngefahr das Nämliche zu allen denen, welchen er begegnete, und beschwor sie, seine Tochter in ihren Schutz zu nehmen. Icilius, durch seine Leidenschaft, und durch seine Erbitterung hingerissen, schalt überlaut auf die Geilheit des Appius. Aber die einzigen Trähnen der Virginia, ihre Jugend, ihre Holdseligkeit, und ihre Reize bewegten die Menge noch weit mehr, als das Klagen und das Flehen ihrer Anverwandten.
Appius vernahm nicht ohne die äußerste Bestürzung, daß Virginius sich mit seinen Freunden und allen seinen Anverwandten auf dem Markte befände. Seine Heimkunft verrückte alle seine Maaßregeln, und er befürchtete, daß er, von dem Volke unterstützet, die Vollziehung des Urtheils, welches er zum Voraus gefallet hatte, sich widersetzen
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möchte. Um allem Widerstande vorzubeugen, ließ er die Soldaten von dem Kapitole herabkommen,welche unterseinen Befehlen stunden, und den Platz besetzen mußten. Endlich begab er sich dahin, und nachdem er seinen Richterstuhl mit jener Wallung bestiegen, welche das Verlangen, sein Verbrechen zu vollenden, in ihm erregte; so sagte er, daß alle die Bewegungen, welche Icilius sich gegeben hätte, das Volk zu empören, ihm nicht unbekannt waren; man mußte aber auch wissen, daß es ihm weder an Macht noch an Standhaft tigkeit fehlen würde, diejenigen abzustrafen, welche es versuchen wollten, die öffentliche Ruhe zu stören; und hierauf befahl er dem Claudius, sein Begehren vorzutragen, und seine Klage zu verfolgen. Claudius sprach, es könnte niemand unbewußt seyn, daß die Kinder der Sklaven den Herren derselben zugehörten, und aus diesem Grunde geschähe es, daß er die Virginia zurück forderte. Zu gleicher Zeit brachte er das Sklavenweib zum Vorscheine, welches er verführet hatte, und die aus Furcht vor ihrem Herrn erklärte, daß sie dieses Kind der Gattinn des Virginius verkauft habe, Claudius setzte hinzu, daß
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es ihm, wenn es nöhtig wäre, nicht an andern Zeugen mangeln sollte; und, wie er von der Gerechtigkeit des Decemvirs hoffte, daß er sich durch das Geschrey und die Drohungen der Anhänger des Icilius nicht überraschen, noch durch die Trähnen eines jungen Mägdchens würde erweichen lassen, deren Schicksal zwar in der That Mitleiden erregte, die aber, weil sie in der Dienstbarkeit gebohren worden, in die selbe zurückkehren müßte, wenn sie gleich als eine freye Person sey erzogen worden
Die Fortsetzung folgt.
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