Der Vern\xFCnftige Zeitvertreiber

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Gedanken von der Menschlichkeit

Menschlichkeit! entz\xFCckende Tugend, warum kann ich dir nicht einen Altar in allen Herzen der Menschen erbauen! — Der Eigennutz, die Gei\xDFel des gesellschaftlichen Lebens, und alle \xFCbrigen wilden Leidenschaften, die ihm zum Gefolge dienen, w\xFCrden die ersten Opfer seyn, die ich dir schlachten wollte! —

La\xDFt uns doch ein wenig aus uns selbst hinaus gehen, la\xDFt uns unsere Gedanken ein wenig weiter hinaus dehnen, und die Gl\xFCckseligkeit wird \xFCberall herrschen! — Wir beneiden den gl\xFCcklichen Zeiten das goldene Alter, und wir m\xF6chten gern in den Republicken leben, von denen uns Plato, Morus, und andere sinnreiche Geister, einen getr\xE4umten Plan entworfen haben. La\xDFt uns doch menschlich seyn, la\xDFt uns einander lieben, und diese Tr\xE4ume, werden sich unseren Augen bald als wirkliche Dinge darstellen!

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Ein ber\xFChmter Gelehrter, nachdem er das Gute, und das B\xF6se des menschlichen Lebens durchgerechnet, und die Summen gegeneinander abgezogen, hat er gefunden, da\xDF die letzteren die erstern weit \xFCberstiegen. Dieses wundert mich gar nicht, denn die Menschlichkeit ist noch eben nicht unsere Lieblingstugend. —

Die sittliche Welt ist eben so fruchtbar an betr\xFCgerischen Luftzeichen, als die nat\xFCrliche. Wie viele Dinge ereignen sich nicht in derselben, die wir gar nicht entwickeln k\xF6nnen! — Dieser Mensch, sagt man, ist f\xFCr mich ein R\xE4htsel; wie soll man seine Art zu denken, mit seinen Handlungen zusammenreimen? — Wer sich nur ein wenig auf die Ergr\xFCndung des menschlichen Herzen legt, der wird das, was auch den gr\xF6\xDFten Widerspruch zu leiden scheinet, gar leicht zusammen reimen. Was ich aber nicht begreifen kann, ist, wie ein reicher Mann, seinen Nebenmenschen in der D\xFCrftigkeit, oder im Ungl\xFCcke mit trockenen Augen sehen kann, da er doch alle Mittel und Wege hat, den Bedr\xE4ngten zu Hilfe zu kommen. Der Tyger, das grausamste unter den wilden Thieren, bezeiget seine Empfindlichkeit, wenn es eines von seinem Geschlechte leiden sieht. Aber der

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Mensch, — — Ach! lasset uns dieses Gleichni\xDF nicht ausf\xFChren! — Die G\xFCtigkeit ist eine der sch\xF6nsten Eigenschaften des allerh\xF6chsten Wesen. Lasset uns, so viel es schwachen Sterblichen m\xF6glich ist, demselben nachahmen, und wir werden gewi\xDF die Qwelle einer wahren Gl\xFCckseligkeit finden! — Nichts als das Zeugni\xDF eines reinen Gewissen, kann mit dem geheimen Vergn\xFCgen verglichen werden, welches ein Menschenfreund f\xFChlet, ein Mensch, der sein Wohlgefallen daran hat, andere gl\xFCcklich zu machen. Und, was der Menschlichkeit den meisten Glanz giebt, ist, da\xDF sie allzeit andere Tugenden zu Gef\xE4hrten hat. Bey Privatleuten begleiten sie allezeit, das Mitleiden, die Wohlth\xE4tigkeit und Gro\xDFmuht; bey F\xFCrsten und K\xF6nigen aber ist sie mit der Gerechtigkeit, und Mildth\xE4tigkeit umgeben.

Ich habe alle Zeitalter durchgegangen, Menschen von diesem \xE4dlen Charakter zu finden. Ich habe nur wenige gefunden, und von diesen will ich hier ein paar anf\xFChren.

Der chinesische Kaiser Cham - Hi, traf einst, als er auf der Jagd war, und sich von seiner Begleitung ziemlich weit entfernt, hatte, einen armen alten

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Mann an, der bitterlich weinte, und \xFCber ein au\xDFerordentliches Ungl\xFCck betr\xFCbt zu seyn schien. Von dem Zustande ger\xFChrt, in welchem ihn der Monarch sah, n\xE4herte er sich ihm, und fragte, ohne sich zu erkennen zu geben, was ihm fehlte? Ach gn\xE4diger Herr antwortete der Alte, Sie w\xFCrden dem Uibel doch nicht abhelfen k\xF6nnen, wenn ich es Ihnen auch sagte. Mein lieber Mann, versetzte der Kaiser, vielleicht konnte ich euch n\xFCtzlicher seyn, als ihr glaubet; saget mir getrost, was euch fehlet. Nun, weil Sie es dann wissen wollen, so h\xF6ren Sie die Ursache. Ein Aufseher eines kaiserlichen Lustschlosses, fand mein kleines Landgut, das nahe bey diesem Schlosse lag, sehr beqwem f\xFCr sich, er bem\xE4chtigte sich desselben, und brachte mich an den Bettelstab. Er war damit noch nicht zufrieden. Ich hatte einen einzigen Sohn, der die St\xFCtze meines Alters war. Auch diesen hat er mir genommen, und ihn zu seinem Sklaven gemacht. — Der Kaiser ward von dieser Erz\xE4hlung so ger\xFChrt, das er, mit dem Vorsatze, ein Verbrechen zu bestrafen, das man unter seinem Schutze begieng, den Alten sogleich fragte, ob es weit nach dem Lustschlosse sey, von wel-

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chem er redte? Und, da ihm der Alte antwortete, da\xDF es nicht viel \xFCber eine halbe Meile sey, sagte er, da\xDF er mit ihm dahin gehen wolle, um den Aufseher anzuhalten, ihm sein Gut, und seinen Sohn herauszugeben, und er zweifle nicht, da\xDF er sein Vorhaben nicht erreichen w\xFCrde. Ach gn\xE4diger Herr, erwiederte der Alte, bedenken Sie, was ich Ihnen gesagt habe, da\xDF dieser Mann dem Kaiser angeh\xF6ret. Es ist f\xFCr mich, und f\xFCr Sie gleich gef\xE4hrlich, wenn Sie ihm dieses zumuhten wollten. Er w\xFCrde sodann, mit mir noch \xE4rger verfahren, und Sie werden ohne beleidiget zu werden, nicht wegkommen. Beunruhiget euch deswegen nicht, antwortete der Kaiser, ich hoffe, da\xDF meine Bem\xFChung einen bessern, Ausgang haben wird, als ihr vermuhtet. — Der Alte, der an diesem unbekannten Herrn dasjenige Erhabene fand, welches die Geburt M\xE4nnern von hohem Stande eingedr\xFCckt zu haben scheinet, hielt es nicht f\xFCr gut, sich l\xE4nger zu widersetzen. Er wandte nur allein ein, da\xDF er seines schwachen Alters wegen, zu Fu\xDFe mit dem Pferde, auf welchem der Kaiser ritt, nicht zugleich fortkommen k\xF6nnte. Ich bin jung, sagte der Prinz, setzet euch

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auf mein Pferd, und ich will zu Fusse gehen. Aber der Alte wollte dieses Anerbiehten nicht annehmen. Der Kaiser schlug ihm also vor, sich hinter ihm auf das Pferd zu setzen. Nach langem Widersetzen, that er es endlich, und sie gelangten gar bald an den Ort, wohin sie verlangten. Der Kaiser fragte sogleich nach dem Aufseher, der nicht wenig erschrack, als er den Monarchen vor seiner sah, der sich ihm durch den gestickten Drachen auf dem Unterkleide, das mit dem Jagdrocke bedeckt war, zu erkennen gab. Der Kaiser gab diesem Verfolger des ehrlichen Alten die bittersten Verweise, und, nachdem er ihn gen\xF6htiget hatte, demselben sein Gut, und seinen Sohn wieder zu geben, lie\xDF er ihm auf der Stelle den Kopf abschlagen. Er that noch mehr. Er setzte den Alten, an die Stelle desselben, und gab ihm die Vermahnung, da\xDF er bey seinem gegenw\xE4rtigen Gl\xFCcke, dahin sehen solle, da\xDF nicht ein anderer von seinen Ungerechtigkeiten, einst den Vortheil ziehen m\xF6chte, den er heute von der Ungerechtigkeit eines andern gezogen. — Welcher Zug der Menschenliebe an einem Kaiser, der noch kaum vierzehn Jahre alt war!

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Franz der erste, K\xF6nig in Frankreich, war in den Gegenden von Blois auf der Jagd. Ein ziemlich wohlgekleidetes Frauenzimmer begegnete ihm in Begleitung einer Mannsperson, die man f\xFCr einen Verwalter ansehen konnte, und noch einem Bedienten. Der K\xF6nig fragte sie, wo sie bey einem so kalten, und schlimmen Wetter hinwollte? denn, es war schon im Winter. Das Frauenzimmer kannte ihn nicht, sie sah aber aus der Gestalt, und dem Betragen des K\xF6niges, der einer der sch\xF6nsten Mannspersonen im K\xF6nigreiche war, da\xDF er von vornehmen Stande seyn m\xFC\xDFte. Sie machte ihm eine tiefe Verbeugung, und trug gar kein Bedenken, ihm die ganze Ursache ihrer Reise zu erz\xE4hlen.

Mein Herr, sagte sie zu ihm, ich gehe nach Blois, um mir daselbst einen Patron zu suchen, der mir Gelegenheit verschaft, dem K\xF6nige einen Fu\xDFfall zu thun, und mich wegen einer Ungerechtigkeit zu beschweren, die mir von dem Parlemente zu Rouen, woher ich komme, wiederfahren ist. Man hat mich versichert, da\xDF der K\xF6nig ungemein gn\xE4dig sey, da\xDF er einen jeden seiner Unterthanen anh\xF6re, und, da\xDF er die Gerechtigkeit liebe. Vielleicht kann ich durch meine traurigen Um-

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st\xE4nde, und durch meine gerechte Sache, etwas bey ihm ausrichten.

Erz\xE4hlen Sie mir Ihre Sache, sagte Franz zu ihr, ohne sich zu erkennen zu geben. Ich habe einiges Ansehen bey Hofe, und ich schmeichele mir, da\xDF ich Ihnen bey dem K\xF6nige einen Dienst werde thun k\xF6nnen, wenn Ihre Klagen gegr\xFCndet sind.

Die Sache, gn\xE4diger Herr, erwiederte die Dame, ist folgende. Ich bin die Wittwe eines Edelmannes, der unter der Armee des K\xF6niges gedienet hat. Um im Stande zu seyn, beym letzteren Feldzuge seine Schuldigkeit zu thun, nahm er von einem Hofbedienten ein Capital auf, und verpf\xE4ndete dagegen sein Landgut, worinnen sein ganzes Verm\xF6gen bestand. Mein Mann blieb in diesem Feldzuge. Der Gl\xE4ubiger, der sich unterdessen, des Landgutes bem\xE4chtigte, hat es best\xE4ndig genutzet, und es war mir nicht m\xF6glich, die Interessen, vielweniger das Capital zu bezahlen. Ich habe die Sache klagbar angebracht; und, ob es gleich gewi\xDF ist, da\xDF die Nutzung so viel betr\xE4get, als das Capital und die Interessen: so baht ich doch nur, da\xDF man wenigstens dieses letztere dagegen abrechnen sollte. Aber, man hat meine

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Bitte nicht Statt finden lassen, und ich bin noch zur Erstattung der Unkosten verdammt worden. Mein Advocat hat mir au\xDFerdem gesagt, da\xDF in meiner Sache nichts weiter zu thun sey, wann sich derselben der K\xF6nig nicht selbst annehmen wollte. Wann ich das Ungl\xFCck h\xE4tte, da\xDF ich bey ihm kein Geh\xF6r f\xE4nde, so w\xE4re es um mich, und meine Kinder geschehen, deren ich eine gute Anzahl habe; ich, und sie w\xE4ren an den Bettelstab gebracht. Ich bitte gn\xE4diger Herr, da Sie mich so mitleidig angeh\xF6ret haben, mein F\xFCrsprecher zu seyn.

Der K\xF6nig, von der Erz\xE4hlung der Wittwe ger\xFChrt, sagte zu ihr: Setzen Sie ihre Reise fort, meine liebe Frau! Kommen Sie Morgen in das Schlo\xDF, und fragen Sie nach mir; (er sagte ihr einen erdichteten Namen) und man wird sie gleich vor den K\xF6nig bringen. Sie dankte ihm, gieng nach Blois, und der K\xF6nig kehrte zu seiner Begleitung zur\xFCck. — Er verga\xDF sein Versprechen nicht, sondern, als er in das Schlo\xDF zur\xFCckkam, gab er Befehl, ihm sogleich Nachricht zu geben, wann ein Frauenzimmer, nach dem und dem Edelmanne fragen sollte. — Die Wittwe unterlie\xDF nicht, sich des folgenden Tages einzustel-

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len. Der K\xF6nig, dem es sogleich gemeldet ward, lie\xDF sie in sein Zimmer f\xFChren, und gab sich ihr zu erkennen. Ich bin derjenige sagte er, nach dem Sie fragen, und ich stehe mit dem K\xF6nige, wie Sie sehen, in so genauer Verbindung, da\xDF ich alles von ihm erlangen kann. — Man rufe meinen Kanzler, fuhr er fort, er soll die Klage dieser Frau untersuchen. Gehen Sie sagte er zu ihr, es soll Ihnen Recht verschaffet werden.

Die Wittwe, war so voll Erstaunen, da\xDF sie weiter nichts thun konnte, als sich dem K\xF6nige zu F\xFC\xDFen zu werfen, welcher sie aufstehen hie\xDF, und bey der Untersuchung ihrer Sache, selbst gegenw\xE4rtig seyn wollte. — Dem Glaubiger ward ein Befehl zugeschicket, das Landgut herauszugeben, die Interessen gegen die Nutzung zu berechnen, und das Capital selbst, lie\xDF der K\xF6nig aus seinem Schatze bezahlen.

Topic revision: r12 - 06 Sep 2012, KatalinBlasko
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