Der Vern\xFCnftige Zeitvertreiber
Bl\xE4ttern:
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Versuch \xFCber den Menschen, aus dem Englischen des Alexander Pope
Erster Brief
Erwache therester Freund, und la\xDF uns die ganze Scene des Menschen freym\xFChtig durchwandern! Denn das Leben erlaubet uns nicht viel mehr, als da\xDF wir um uns her sehen, und sterben. Diese Scene ist gewi\xDF ein ungeheurer Labyrinth doch fehlt es ihm nicht an einem richtigen Plane. Er gleicht einer Wildni\xDF, in welcher das Unkraut unter den Blumen w\xE4chst, oder einem Garten, in welchem uns so viel verbotene Fr\xFCchte in die Versuchung f\xFChren! La\xDF uns untersuchen, was dieses weite Feld
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sowohl offenbar, als verborgen tr\xE4gt! La\xDF uns die grausen Tiefen, und die schwindlichten H\xF6hen, alles dessen, was versteckt in der Dunkelheit kriechet, oder sich \xFCber unser Gesicht hinauf schwinget, betrachten, die Wege der Natur beschauen, die Thorheiten in ihrer Flucht gei\xDFeln, und die Sitten der Zeit, so wie sie entstehen, ergreifen: lachen, wo wir m\xFC\xDFen, aufrichtig seyn, wo wir k\xF6nnen, doch immer die Wege Gottes gegen die Menschen rechtfertigen.
Vor allen sage mir, k\xF6nnen wir wohl von Gott im Himmel, oder, von dem Menschen hiernieden anders schlie\xDFen, als aus dem, was wir von ihnen erkennen? Sehen wir von dem Menschen wohl sonst etwas, als seinen Stand auf Erden, woraus wir schlie\xDFen, und worauf sich unsere Schl\xFC\xDFe beziehen k\xF6nnen? Ungeachtet Gott aus unz\xE4hlbaren Welten bekannt ist, so m\xFC\xDFen wir ihn doch nur in der unsrigen aufsuchen. Der, so die weite Unendlichkeit durchschauet, und der da siehet, wie Welten an Welten ein ganzes System ausmachet, der bemerket auch, wie ein System in das andere l\xE4uft, was f\xFCr andere Planeten sich um andere Sonnen w\xE4lzen, was f\xFCr ver\xE4nderte Wesen jeden Stern bev\xF6lkern;
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und der mag es sagen, warum uns der Sch\xF6pfer so gemacht hat, wie wir sind.— Aber, hat dein Verstand die St\xFCtzen, und Bande, die genauen Verbindungen, die feinen Unordnungen, und die richtigen Stufenfolgen dieser Maschine durchschauet? Kann ein Theil das Ganze fassen; und tr\xE4gt die gro\xDFe Kette, die alles zusammen verbindet, und alles in der Verbindung erhalt, Gott, oder du?
Eingebildeter Mensch, du willst die Ursache wissen warum du so schwach, so klein, und so blind erschaffen bist? Errathe erst, wenn du kannst, die noch weit schwerere Ursache, warum du nicht noch schw\xE4cher, nicht noch kleiner, und blinder bist? Frage die Erde, deine Mutter, warum die Eichen h\xF6her oder st\xE4rker werden, als das Unkraut, welches sie beschatten? Oder, frage jene silbernen Felder \xFCber dir, warum die
Trabenten Jupiters kleiner sind, als
Jupiter selbst?
Wenn es ausgemacht ist, da\xDF eine unendliche Weisheit von allen m\xF6glichen Systemen das beste erschaffen mu\xDFte, in welchem alles angef\xFCllet, und alles was aufsteiget, in geh\xF6rigem Grade geschehen mu\xDFte: so ist es offenbar, das in der Leiter des vern\xFCnftigen Lebens, auch ein sol-
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cher Rang, als der Rang des Menschen ist, seyn mu\xDFte; und die ganze Frage, man mag auch noch so lange streiten, ist, ob ihn Gott an den unrechten Ort gesetzet habe?
Was wir in Ansehung des Menschen unrichtig nennen, kann, und mu\xDF in Beziehung auf das Ganze richtig seyn. In dem menschlichen Werken, so m\xFChsam sie auch seyn m\xF6gen, erhalten auch tausend Bewegungen kaum einen Endzweck. In den Werken Gottes aber, kann auch eine einzige Bewegung ihren Zweck erreichen, und dennoch zur Bef\xF6rderung eines andern Nutzen dienen. So scheinet der Mensch hier allein die Hauptperson zu seyn; und spielet doch gegen eine andere unbekannte Sph\xE4re vielleicht nur die zwote Rolle, er treibet ein Rad, oder dienet zu einem Zwecke. Denn wir sehen nur einen Theil, und nicht das Ganze.
Wann das stolze Ro\xDF wissen wird, warum der Reiter itzt sein Feuer im Z\xFCgel h\xE4lt, und warum er es itzt \xFCber die Felder spornet; wann der dumme Ochs erkennet, warum er itzt die Erde pfl\xFCget, itzt ein Opfer, und itzt ein Gott Aegyptens ist; dann soll auch der Stolz, und die Dummheit des Menschen, den Nu-
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tzen, und den Endzweck seiner Handlungen, seiner Leidenschaften, und seines Daseyns erkennen, und wissen, warum er bald handeln, bald leiden mu\xDF, bald gehemmt, bald fortgetrieben wird, und warum er in dieser Stunde ein Sklave, in der folgenden aber ein Gott ist.
Sage also nicht, da\xDF der Mensch unvollkommen sey, und da\xDF der Himmel gefehlet habe; sage vielmehr, da\xDF er so vollkommen sey, als er seyn mu\xDF; da\xDF seine Erkenntni\xDF, nach seinem Stande, und Orte abgemessen, da\xDF seine Zeit ein Augenblick, und sein Raum ein Punkt sey. Soll er nur in einer gewissen Sph\xE4re gl\xFCcklich seyn, so ist es gleich viel, oberes fr\xFCh, oder sp\xE4t, hier oder dort ist! Wer heute gl\xFCcklich ist, ist eben so vollkommen gl\xFCcklich, als wenn er es schon seit tausend Jahren w\xE4re.
Der Himmel verbirget das Buch des Schicksals vor allen Gesch\xF6pfen. Nur ein einziges Blatt steht ihnen offen, und dieses Blatt ist ihr gegenw\xE4rtiger Zustand. Den Thieren verbirgt er was die Menschen, und den Menschen, was die Geister wissen; denn, wer w\xFCrde sonst sein Daseyn auf der Welt ertragen k\xF6nnen? — Das Lamm, welches heute deine leckerhafte Zunge zum Tode ver-
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dammet, w\xFCrde es wohl h\xFCpfen und springen, wann es deine Vernunft bes\xE4\xDFe? Bis auf den letzten Augenblick vergn\xFCgt, fri\xDFt es das blumichte Futter, und lecket die Hand, die eben ausgestreckt wird, sein Blut zu vergie\xDFen. — O! Unwissenheit der Zukunft! Dich hat der g\xFCtige Himmel darum gegeben, damit ein jeder den Kreis vollende, den er ihm vorgeschrieben hat; er, der als Gott von allem, mit gleichem Auge einen Helden sterben, oder einen Sperling fallen, Atomen, oder Systemen in den Untergang st\xFCrzen, und hier eine Wasserblase, dort eine Welt zerspringen siehet!
Hoffe demnach in Demuht, und erhebe dich auf zitternden Fl\xFCgeln! Erwarte den gro\xDFen Lehrer, den Tod, und behte Gott an! Was f\xFCr eine Gl\xFCckseligkeit deiner k\xFCnftig erwartet, das l\xE4\xDFt er dich nicht wissen; aber, er giebt dir die Hoffnung zur gegenw\xE4rtigen. Hoffnung keimet best\xE4ndig in der menschlichen Brust. Der Sterbliche ist hier niemals gl\xFCcklich, aber, er soll auf immer gl\xFCcklich werden! Die Seele, die in sich eingeschr\xE4nkt, unzufrieden ist, beruhiget sich, indem sie in ein k\xFCnftiges Leben siehet!
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Siehe den armen Indianer an! Sein unm\xFCndiger Verstand siehet Gott in den Wolken, oder er h\xF6ret ihn in dem Winde. Stolze Wissenschaft lehrte nie seine Seele, sich bis zur Sonnenbahn, oder zur Milchstrasse hinauf zu schwingen. Doch hat die einf\xE4ltige Natur, seine Hoffnung, hinter dem mit Wolken bedeckten H\xFCgel, einen niedrigem Himmel, eine sichrere Welt im Schatten der W\xE4lder, und eine gl\xFCcklichere Insel in der Wasserw\xFCste gegeben, wo die Sklaven ihr v\xE4terliches Land dereinst wiedersehen, wo sie keine Feinde qw\xE4len, und keine Christen nach Golde d\xFCrften werden. Zu seyn befriediget die Begierde seiner Natur. Er fordert nicht den Fl\xFCgel des Engels, nicht das Feuer des Seraphs; sondern er glaubt, da\xDF sein getreuer Hund, mit ihm in einen Himmel kommen, und ihm Gesellschaft leisten wird. —
Du, der du kl\xFCger bist, geh, und w\xE4ge auf der Waage deines Verstandes deine Meynung, gegen die Vorsehung ab! Nenne das Unvollkommenheit, was du daf\xFCr h\xE4ltst! Sprich, hier giebt sie zu wenig, und dort zuviel. Zerst\xF6hre alle Gesch\xF6pfe zu deiner Lust, oder nach deinem Gefallen, und rufe dennoch:
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Wenn der Mensch ungl\xFCcklich ist, wenn er nicht allein alle Sorge des Himmels besitzet, nicht allein hier vollkommener, und dort unsterblich ist, so ist Gott ungerecht! Rei\xDF ihm die Waagschaale, und den Zepter aus der Hand; richte \xFCber die Gerechtigkeit, und sey der Gott Gottes! — Aus dem Stolze, aus dem kl\xFCgelnden Stolze entspringt unser Irrthum. Alles will seine Sph\xE4re verlassen, und sich zum Himmel schwingen. Der Stolz hat sein Auge best\xE4ndig auf die gl\xFCckseligen Wohnungen gerichtet. Menschen wollen Engel, und die Engel wollen G\xF6tter seyn. Wenn die Engel fielen, als sie G\xF6tter werden wollten, so werden die Menschen Aufr\xFChrer, wenn sie Engel zu seyn verlangen. Selbst nur der Wunsch, die Gesetze der Ordnung umzukehren, ist eine S\xFCnde wider den ewigen Gesetzgeber!
Frage, zu welchem Ende leuchten die himmlischen K\xF6rper? Zu welchem Nutzen ist die Erde? Der Stolz antwortet: Sie sind f\xFCr mich! F\xFCr mich erweckt die g\xFCtige Natur ihre Zeugungskraft, f\xFCr mich sauget sie alle Kr\xE4uter, und breitet alle Blume aus. Die Traube erneuert f\xFCr mich alle Jahre ihren Nektarsaft, und die Rose ihren balsamischen Duft.
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Aus tausend Qwellen entspringt f\xFCr mich die Gesundheit. Seen bewegen sich, mich fortzutragen, Sonnen gehen auf mir zu leuchten. Mein Fu\xDFsch\xE4mel ist die Erde, und meine Decke der Himmel!
Aber verirret sich die Natur nicht von diesem g\xFCtigen Endzwecke, wenn der Tod von brennenden Sonnen herabsteigt, wenn das Erdbeben, oder die St\xFCrme, St\xE4dte verschlingen, oder ganze Nationen in den Abgrund st\xFCrzen? — Nein, antwortet man, die erste allm\xE4chtige Ursache, handelt nicht nach einzelen, sondern nach allgemeinen Gesetzen. Der Ausnahmen sind nur wenig. Ein Zufall herrschte, so lang die Welt stehet; und, was ist unter den Erschaffenen vollkommen? — Gut, warum soll es denn der Mensch seyn? Wenn der gro\xDFe Endzweck die menschliche Gl\xFCckseligkeit ist, so weichet die Natur ab; und, kann der Mensch nicht eben das? Dieser Endzweck erfordert eben so sehr eine best\xE4ndige Abwechselung vom Regen und Sonneschein, als von den Begierden des Menschen; eben so sehr ewige Fr\xFChlinge, und wolkenlose Tage, als Menschen, die best\xE4ndig m\xE4\xDFig, geruhig, und weise sind. Wann
Pest, oder Erdbeben die Absicht des Himmels nicht st\xF6ren, war-
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um sollte es ein
Borgias, oder
Carilina thun? Eben der, dessen Hand den Blitz schaffet, der den Ocean emp\xF6ret, und die St\xFCrme befl\xFCgelt, eben der gie\xDFet auch den grausamen Ehrgeitz in die Seele eines C\xE4fars, oder l\xE4\xDFt den jungen Amon los, die Menschen zu gei\xDFeln! — Der Stolz, ja der Stolz ist der Grund dieser Schl\xFC\xDFe. Er erkl\xE4ret moralische Zuf\xE4lle eben so, wie ihr die nat\xFCrlichen. Warnm tadeln wir den Himmel in jenen, und sprechen ihn in diesen frey? Sich in, beyden unterwerfen, hei\xDFt von beyden richtig urtheilen!
Viellecht m\xF6chte es uns besser zu seyn scheinen, wann hier alles Harmonie, alles Tugend w\xE4re. Wann Luft, und Ocean niemals den Wind f\xFChlten, und niemals eine Leidenschaft die Seele beunruhigte. Aber, alles bestehet durch den Kampf der Elemente, und die Leidenschaften sind die Elemente des Lebens. Die allgemeine Ordnung ist, seitdem die Welt entstand, in der Natur, und in dem Menschen erhalten wordrn.
Aber, was will doch dieser Mensch? Itzt will er sich erheben, und mehr, als ein Engel seyn; er, der nicht viel weniger ist. Itzt siehet er uuter sich, und bedauert es eben so sehr, da\xDF ihm die
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St\xE4rke des Stiers, als der Pelz des B\xE4res mangelt. Da alle Gesch\xF6pfe, so bald er will, zu seinem Gebrauche erschaffen sind: so sagt, was w\xFCrde es ihm n\xFCtzen, wann er alle die Kr\xE4fte derselben bes\xE4\xDFe? Die freygebige Natur, gab diesen, ohne Verschwendung die geh\xF6rigen Organa, und die geh\xF6rigen Kr\xE4fte; und, sie ersetzte jeden anscheinenden Mangel, hier mit gr\xF6\xDFerer Geschwindigkeit, dort mit gr\xF6\xDFerer St\xE4rke, nach einem genauen Verh\xE4ltni\xDFe zu ihrem Zustande. Nichts hat zu wenig, nichts zu viel! Jedes Vieh, jedes Insekt ist mit dem Empfangenen gl\xFCcklich. Sollte denn der Himmel allein gegen den Menschen ung\xFCtig seyn? Und, will dieser Mensch allein, er, den wir vern\xFCnftig nennen, mit nichts vergn\xFCgt seyn, wenn er nicht mit allem beschenket wird?
Die Gl\xFCckseligkeit des Menschen — k\xF6nnte sein Stolz nur diese Gl\xFCckseligkeit einsehen — bestehet nicht darinn, da\xDF er \xFCber die Kr\xE4fte der menschlichen Natur handle, oder denke; nicht darinnen, da\xDF er andere Kr\xE4fte des Leibes, oder der Seele besitze, als diejenige, die seine Natur, und sein Stand leiden k\xF6nnen. Warum hat der Mensch kein mikroskopisches Auge? Die Ursache ist ganz
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klar. Denn, der Mensch ist keine Fliege. W\xFCrde es ihm wohl n\xFCtzen, wann er ein feineres Gesicht bekommen h\xE4tte, und eine Milbe beschauen, aber den Himmel nicht betrachten k\xF6nnte? Oder, was n\xFCtzte ihm ein Gef\xFChl, welches alles zitternd empfindet, und ihn in jeder Nerve schmerzen, und peinigen w\xFCrde. Oder ein so feiner Geruch, da jeder Ausflu\xDF schnell durch sein Gehirn dr\xE4nge, und ihn der Geruch einer Rose t\xF6dten w\xFCrde? Wann die Natur in seine offenen Ohren donnerte, und ihn mit der Musik der Sph\xE4ren bet\xE4ubte, wie w\xFCrde er w\xFCnschen, da\xDF der Himmel ihm nur den lispelnden Zephyr, und den rieselnden Bach gelassen h\xE4tte! — Wer findet daher die Vorsehung nicht so vollkommen g\xFCtig und weise, in dem was sie giebt, als in dem, was sie versaget?
So lang die volle Reihe der Sch\xF6pfung ist, so weit steigen auch in der Leiter die Kr\xE4fte des Leibes und der Seele! Siehe, wie sie von den gr\xFCnen Myriaden in dem bev\xF6lkerten Grase, bis zum herrschenden Geschlechte des Menschen hinauf geht. Was f\xFCr ein Unterschied zwischen den beyden letzten Gr\xE4nzen des Gesichtes! zwischen der dunkelen D\xE4mmerung des Maulwurfs, und dem
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hellen Gesichte des Luchses! Vom Geruche, zwischen der schnellen L\xF6winn, und dem Hunde, der auf dem Grase die Spur wittert! Vom Geh\xF6re, von dem, was in den W\xE4ssern lebt, bis zu dem, was in dem Fr\xFChlinge im Walde singt! Wie ausnehmend fein ist das Gef\xFChl der Spinne! Sie f\xFChlt auf jedem Faden, und lebt in dem ganzen Gewebe. Was hat die z\xE4rtliche Biene nicht f\xFCr einen feinen und untr\xFCglichen Geschmack! Aus giftigen Kr\xE4utern saugt sie den heilsamen Thau. Wie ver\xE4ndert ist der Instinct in dem niedrigen Schweine, mit dem deinen verglichen, halb vern\xFCnftiger Elefant! Und was ist zwischen diesem, und der Vernunft f\xFCr eine unmerkliche Gr\xE4nze! Immer abgesondert, und dennoch immer so nahe! Wie sehr verwandt ist die Erinnerung, mit der Uiberlegung! Was f\xFCr eine d\xFCnne Scheidewand trennt die Empfindung von den Gedanken? Und, wie sehnen sich die mittleren Naturen, einander zu erreichen, ohne jemals die Linie zu \xFCberschreiten, \xFCber die sie nie kommen k\xF6nnen! K\xF6nnte wohl ohne dieses richtige Stufengefolge eines dem andern, oder alles dir unterworfen seyn? Da die Kr\xE4fte aller, dir allein unterworfen sind, so ist es ge-
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wi\xDF, da\xDF deine Vernunft, eine Vereinigung aller dieser Kr\xE4fte in einer sey!
Siehe, wie in dieser Luft, in diesem Oceane, in dieser Erde, aller Stof belebt, und voller Zeugungskraft ist! Wie hoch erstrecket sich der Fortgang des Lebens \xFCber uns! Wie weit um uns, und wie tief unter uns! Gro\xDFe Kette der Wesen! welche von Gott anhebt, \xE4therische, und menschliche Naturen, Engel, Mensch, Vieh, Vogel, Fisch und Insekt! Was kein Auge sehen, kein Glas erreichen kann! Vom Unendlichen bis zu dir, von dir, bis zum Nichts! — Wollten wir uns zu den h\xF6heren Wesen dr\xE4ngen, so w\xFCrden sich die untern an uns dr\xE4ngen, oder in der vollen Sch\xF6pfung eine L\xFCcke lassen. Und, wenn eine Stufe zerbrochen ist, so ist die ganze Leiter zerst\xF6ret. Was f\xFCr ein Glied du auch aus der Kette der Natur hinwegnimmst, das Zehente, oder das Zehntausendste, so wird doch allzeit die Kette zerbrochen.
Und, wenn jedes System in der Stufenfolge, als ein gleich wesentlicher Theil des erstaunlichen Ganzen l\xE4uft, so mu\xDF bey der geringsten Unordnung, nicht nur dieses ganze System, sondern auch das ganze All fallen. La\xDF denn die Erde ohne Gleichgewicht, aus ihrer Bahn flie-
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los durch den Himmel laufen; la\xDF die herrschenden Engel, aus ihren Sph\xE4ren st\xFCrzen; Wesen an Wesen, und Welt an Welt zerscheitern; la\xDF die ganze Grundfeste des Himmels sich zu ihrem Mittelpunkte neigen; und die Natur bis an den Trohn Gottes zittern; la\xDF diese m\xE4chtige Ordnung vergehen! — F\xFCr wen? F\xFCr dich?— Elender Wurm! — Welche Raserey! welcher Stolz! welche Gottlosigkeit!
Wie, wenn der Fu\xDF, der den Staub treten sollte, und die Hand, die zur Arbeit bestimmt war, das Haupt seyn wolleten? Oder, wenn das Haupt, das Auge, und das Ohr sich beklagten, da\xDF sie der Seele zu blo\xDFen Werkzeugen dienen m\xFCssen? Eben so th\xF6richt ist es, wenn jeder Theil, etwas anders in dieser allgemeinen Maschine zu seyn verlanget. Eben so th\xF6richt, sich \xFCber die Verrichtung, oder \xFCber die M\xFChe zu beklagen, welche die gro\xDFe herrschende Seele des Alls austheilte.
Alle sind nur Theile eines erstaunlichen Ganzen, dessen Leib die Natur, und dessen Seele Gott ist. Diese, in allen ver\xE4ndert, und dennoch in allem diesebe, so gro\xDF in der Erde, als in dem Baue des Himmels, erw\xE4rmet in der
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Sonne, k\xFChlet im Zephyr, gl\xFCht in den Sternen, und bl\xFCht in den B\xE4umen. Sie lebt durch das ganze Leben, und dehnet sich durch den ganzen Raum aus. Sie verbreitet sich unzertheilet, wirket unersch\xF6pfet, ahtmet in unserer Seele, und belebt unseren sterblichen Theil. Sie ist eben so vollkommen in einem Hahre, als in einem Herzen, eben so vollkommen in dem elenden Menschen, der da klaget, als in dem entz\xFCckten Seraphe, der da anbehtet, und brennet. Bey ihr ist nichts hoch, nichts niedrig, nichts gro\xDF, und nichts klein. Sie erf\xFCllet, umgr\xE4nzet, verbindet, und machet alles gleich.
H\xF6re demnach auf, die Ordnung Unvollkommenheit zu nennen, denn unsere eigene Gl\xFCckseligkeit beruhet auf dem, was wir tadeln. Erkenne deinen eigenen Punct! Diesen wohlgemeynten, diesen geh\xF6rigen Grad der Blindheit, und der Schwachheit, giebt dir der Himmel! Unterwirf dich! und glaube, da\xDF du in dieser, oder einer anderen Sph\xE4re, so gl\xFCckselig seyst, als du seyn kannst. Da\xDF du allenthalben sicher, in der Hand einer alles ordnenden Macht, in der Stunde deiner Geburt, oder in der Stunde deines Todes seyst! Die ganze
(p 337) Fehler bei den Seitenzahlen, kein Text fehlt!
Natur ist nichts als Kunst die du nicht verstehest. Aller Zufall ist eine Vorsehung, die du nicht einsiehest. Aller Mislaut ist eine Harmonie, die du nicht begreifest, und alles einzelne Uibel, ein allgemeines Gut; und, trotz dem Stolze, trotz der irrenden Vernunft, bleibt eine Wahrheit offenbar, n\xE4mlich: Alles was ist, ist recht!
Zweyter Brief
Erkenne dich demnach selbst, und unterfange dich nicht, Gott zu erforschen; denn, der rechte Gegenstand der menschlichen Erkenntni\xDF, ist der Mensch selbst. Auf diesen Isthmus eines Mittelstandes gesetzt, dunkelweise, und auf eine grobe Art gro\xDF; mit zu viel Erkenntni\xDF versehen den Zweiflern beyzutreten, und mit zu viel Schwachheiten erf\xFCllet, den stoischen Stolz anzunehmen, h\xE4nget er zwischen beyden in einer steten Unentschlossenheit. Ungewi\xDF, ob er handeln, oder ruhen, ob er sich f\xFCr einen Gott, oder f\xFCr ein Thier halten, und ob er seiner Seele, oder seinem Leibe den Vorzug geben soll. Er ist geboren, um zu sterben, er vern\xFCnftelt, um zu irren, und in gleicher Unwissenheit, er mag
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zu viel, oder zu wenig denken. Ein Chaos von unordentlichen Gedanken, und Leidenschaften, das sich immer selbst betr\xFCgt, und den Betrug entdeckt; erschaffen, halb zu steigen, und halb zu sinken; ein gro\xDFer Herr aller Dinge, und doch ein Raub von allen. Der einzige Richter der Wahrheit, der sich in unendliche Irrth\xFCmer st\xFCrzet, der Stolz, das Spiel, und das R\xE4htsel der Welt! —
Geh, wunderbares Gesch\xF6pf, ersteige die H\xF6he, zu welcher die Wissenschaft leitet! Geh, mi\xDF die Erde, w\xE4ge die Luft, und bestimme die Ebbe und Fluht! Lehre die Planeten, in welchem Kreise sie laufen sollen! Verbessere die alte Zeit, und ordne den Lauf der Sonne. Geh, steig mit dem
Plato, in die empyr\xE4ische Sph\xE4re, zum h\xF6chsten Gute, zur h\xF6chsten Vollkommenheit, und zur h\xF6chsten Sch\xF6nheit hinaus! Oder betritt den labyrinthischen Irrweg, den seine Nachfolger betraten; und nenne die Vernunft verlassen, Gott nachahmen, so, wie die morgenl\xE4ndischen Priester, sich schwindlicht in Kreisen laufen, und ihre K\xF6pfe drehen, um der Sonne nachzuahmen. Geh, lehre die ewige Weisheit,
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wie sie regieren soll, und dann kehre in dich selbst zur\xFCck, und sey ein Thor!
Als j\xFCngst die h\xF6heren Wesen, einen Sterblichen alle Gesetze der Natur entfalten sahen, bewunderten sie eine so gro\xDFe Weisheit in einem irdischen Gesch\xF6pfe, und ein
Newton d\xFCnkte ihnen das zu seyn, was uns ein Affe zu seyn
scheinet.
Konnte er, der den schnellen Kometen an Regeln band, auch wohl eine Bewegung seiner Seele beschreiben, und bestimmen? Der den feurigen Stern hier aufgehen, und dort untergehen sah, konnte der auch wohl seinen eigenen Anfang, oder sein Ende erkl\xE4ren? O! wie wunderbar! der vornehmste Theil des Menschen kann sich erheben, und von Kunst zu Kunst hinauf steigen, sobald er aber sein eigenes gro\xDFes Werk beginnet, so zerrei\xDFet die Leidenschaft das, was die Vernunft webte.
Gehe demnach den Wissenschaften nach, an der Hand deiner F\xFChrerinn der Bescheidenheit. Nimm ihnen aber vorher allen Aufzug des Stolzes ab. Nimm ihnen alles was nichts mehr als Eitelkeit oder Putz, nichts, als zur Schau verschwendete, oder aus Tr\xE4gheit angebrachte Gelehrsamkeit ist. Alle kleine
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Kunstgriffe, wodurch man die Gr\xF6\xDFe des menschlichen Verstandes zeigen will, was blo\xDF die Neugierde vergn\xFCget oder sinnreich erk\xFCnstelt ist. Zernichte das Ganze, oder schneide die Ausw\xFCchse alles dessen ab, was unsere Laster zu K\xFCnsten gemacht haben. Und dann siehe, wie klein der Uiberrest bleibet, welcher den vorigen Zeiten gedienet hat, und den k\xFCnftigen dienen mu\xDF.
Zwey Triebwerke herrschen in der menschlichen Natur; die Selbstliebe, fortzutreiben, und die Vernunft, zur\xFCckzuhalten. Diese nennen wir so wenig einen guten, als jene einen b\xF6sen Grundtrieb. Jeder wirket nach seiner Absicht, entweder zu bewegen, oder zu regieren; und ihrer unrichtigen Wirkung schreiben wir immer alles B\xF6se, so, wie ihrer richtigen, alles Gute zu.
Die Selbstliebe, die Triebfeder der Bewegung, treibet die Seele fort, und die Vernunft mit ihrer vergleichenden Wagschaale, regieret das Ganze. Ohne jene k\xF6nnte der Mensch gar nicht handeln, und ohne diese, w\xFCrde er ohne Absicht handeln. Gleich einer Pflanze, auf seinem eigenth\xFCmlichen Flecke befestiget, w\xFCrde er entweder die Nahrung einziehen, sich fortpflanzen, und verfaulen,
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oder, gleich einem Meteor, regellos durch den leeren Raum flammen, andere zerst\xF6ren, und durch sich selbst zerst\xF6ret werden.
Der bewegende Grundtrieb, hat der gr\xF6\xDFten St\xE4rke n\xF6htig. Seine Verrichtung ist th\xE4tig, er reitzet, treibet, und beseelet. Das vergleichende Verm\xF6gen liegt ruhig, und stille, und sein Ammt ist, nur zur\xFCckzuhalten, zu \xFCberlegen, und zu rahten. Die Selbstliebe wird immer st\xE4rker, je n\xE4her ihre Vorw\xFCrfe sind, und die Gegenst\xE4nde der Vernunft, liegen in einer entfernten Aussicht. Jene erkennet ein unmittelbares Gut, durch die gegenw\xE4rtige Empfindung, und die Vernunft, siehet das K\xFCnftige, mit seinen Folgen. Die Versuchungen dr\xE4ngen sich zahlreicher ein, als die Gr\xFCnde; und die Vernunft ist, wann es hoch k\xF6mmt, wachsamer, aber die Eigenliebe ist weit st\xE4rker. Damit ihr nun die Wirkungen der st\xE4rkeren verhindern m\xF6get, so bedienet euch immer der Vernunft, und gehorchet derselben. Die Aufmerksamkeit gewinnet endlich Fertigkeit und Erfahrung, und jede derselben st\xE4rket die Vernunft, und schr\xE4nket die Selbstliebe ein. Die spitzfindigen Schulweisen, die lieber trennen, als verbinden, m\xF6gen
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diese Feindinnen zum Streiten bringen, und mit aller unbedachtsamen Fertigkeit des Witzes, Gnade und Tugend, Sinne und Vernunft entzweyen. Witzlinge und Thoren streiten sehr oft \xFCber einen Namen, wobey sie entweder einerley, oder gar nichts denken. Selbstliebe und Vernunft arbeiten gemeinschaftlich zu einem Endzwecke, sie scheuen den Schmerz, und streben dem Vergn\xFCgen nach. Nur die erstere m\xF6chte ihren Gegenstand gerne verschlingen, da die andere allem den Honig zu kosten w\xFCnscht, ohne die Blume zu verletzen. Das Vergn\xFCgen ist immer, recht verstanden, unser gr\xF6\xDFtes Gut, unrecht aber, unser gr\xF6\xDFtes Uibel.
Wir k\xF6nnen die Leidenschaften Arten der Selbstliebe nennen. Ein wahres, oder ein scheinbares Gut, setzt sie alle in Bewegung. Weil wir aber jedes Gut nicht theilen k\xF6nnen, und weil die Vernunft uns f\xFCr uns selbst zu sorgen hei\xDFt, so stellen sich auch die Leidenschaften die auf uns selbst gehen, unter die Fahne der Vernunft, und verdienen, wenn ihre Mittel gut sind, ihre Aufsicht. Diejenigen, die anderen mittheilen streben nach einem edleren Zwecke sie versch\xF6nern ihre Art, und nehmen den Namen einer Tugend an.
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Die Stoiker m\xF6gen sich ihrer tr\xE4gen und unempfindlichen Tugend r\xFChmen. Sie ist wie durch einen Frost zusammen gezogen, und im Herzen eingeschr\xE4nket. Aber die St\xE4rke der Seele besteht in der Uibung, nicht in der Ruhe. Der aufsteigende Sturm setzt die Seele in Th\xE4tigkeit, und wenn er auch einige Theile zerst\xF6ret, so erh\xE4lt er doch das Ganze. Wir seegeln verschiedentlich auf dem weiten Oceane des Lebens. Die Vernunft ist die Karte, und die Leidenschaft ist der Wind. Gott selbst wandelt nicht immer in der ruhigen Stille, er erhebt sich auch auf dem Sturme, und geht in den Winden daher.
Zwar die Leidenschaften sind, gleich den Elementen, zum Streiten erschaffen, doch vereinigen sie sich vermischt, und gem\xE4\xDFigt in den Werken Gottes. Es ist genug sie zu m\xE4\xDFigen, und zum Nutzen anzuwenden; aber, kann der Mensch wohl das zerst\xF6ren, woraus er bestehet? — Begn\xFCge dich, wenn sich nur die Vernunft auf der Bahne der Natur erh\xE4lt, sich die Leidenschaften unterwirft, und ordnet, und ihr, und Gott folget! Liebe Hoffnung, und Freude, das lachende Gefolge des Vergn\xFCgens; Ha\xDF, Furcht, und Gram, die Geschwister des
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Schmerzens, wenn sie k\xFCnstlich vermischet und in geh\xF6rige Gr\xE4nzen eingeschr\xE4nket werden, machen, und erhalten das Gleichgewicht der Seele. Sie sind das Licht, und der Schatten, deren wohlangelegter Contrast, unserm Leben alle St\xE4rke, und alles Colorit giebt.
Das Vergn\xFCgen ist best\xE4ndig, entweder in unserer Hand, oder in unseren Augen. Ein neues tritt in der Hoffnung wieder auf, wenn ein wirkliches verschwindet. Das gegenw\xE4rtige zu ergreifen, und das k\xFCnftige immer aufzusuchen, ist die ganze Besch\xE4ftigung des Leibes, und der Seele. Alle biehten ihre Reitzungen an, aber, nicht alle reitzen auf gleiche Weise. Ein Gegenstand wirkt auf diesen, ein anderer auf einen anderen Sinn. Daher entz\xFCnden uns verschiedene Leidenschaften, nachdem die Organa der Sinne stark, oder schwach, mehr oder weniger sind; und daher verschlingt eine herrschende Leidenschaft, wie die
Schlange Aarons, die andern alle.
So vielleicht, wie der Mensch, in dem Augenblicke, in welchem er zu leben beginnet, den verborgenen Saamen des Todes empf\xE4ngt. — So, wie die junge Krankheit, die ihn endlich \xFCberw\xE4ltigen soll, mit ihm w\xE4chst, und mit ihm
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st\xE4rker wird, eben so ward auch die Krankheit der Seele die herrschende Leidenschaft des Menschen, in seine Natur gelegt, und mit ihr vermischet. Jeder Lebenssaft, der den ganzen Menschen n\xE4hren sollte, flie\xDFet gar bald nach diesem kranken Theile, des Leibes sowohl, als der Seele. Die Einbildungskraft, verrichtet ihre gef\xE4hrliche Kunst, und giesset alles, was das Herz erhitzet, oder den Kopf erf\xFCllet, dahin, so, wie sich die Seele mehr und mehr er\xF6fnet, und ihre Kr\xE4fte entwickelt.
Die Natur ist die Mutter, die Gewohnheit aber die Amme derselben. Witz, Verstand, und andere Kr\xE4fte, machen sie nur noch schlimmer. Die Vernunft selbst giebt ihr nur St\xE4rke, und Sch\xE4rfe, so, wie der milde Stral des Himmels den E\xDFig nur s\xE4urer macht.
Wir, elende Unterthanen, ihrer, wiewohl rechtm\xE4\xDFigen Herrschaft, gehorchen in dieser schwachen K\xF6niginn, immer einer ihrer G\xFCnstlinginn! Ach! wenn sie uns nicht eben sowohl Waffen, als Regeln giebt, was kann sie denn mehr, als uns sagen, da\xDF wir Thoren sind. Was mehr, als uns unsere Natur beklagen, nicht verbessern zu lehren, und unsre
scharfe Ankl\xE4gerinn, aber hilflose Freun-
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dinn zu seyn! Oder, was kann sie mehr, als aus einer Richterinn eine Versprecherinn werden, um uns zu der Wahl zu bereden, die wir machen, oder sie zu rechtfertigen, wenn sie schon gemacht ist. Stolz auf einen leichten Sieg, schaffet sie nur eine schwache Leidenschaft weg, um einer gr\xF6\xDFeren Platz zu machen, so, wie ein Arzt glaubet, geringe Fl\xFC\xDFe vertrieben zu haben, wenn sie zur, Gicht geworden sind.
Ja, der Weg der Natur ist immer der be\xDFte! Auf diesem ist die Vernunft nicht unsere F\xFChrerinn, sondern unsere Bedeckung. Sie mu\xDF dieser Leidenschaft immer die beste Richtung geben, sie aber nicht unterdr\xFCcken, und mehr freundschaftlich, als feindselig mit ihr umgehen. Eine m\xE4chtigere Gewalt sendet den starken Trieb, und treibet verschiedene Menschen zu verschiedenen Zwecken. Wenn er von anderen Leidenschaften, wie von Winden herumgeworfen wird, so treibet ihn doch die herrschende best\xE4ndig an ein gewisses Ufer. Es mag ihm Gewalt, oder Gelehrsamkeit, Gold, oder Ehre, oder was meist noch st\xE4rker, als alles dieses ist, die Liebe zur Musse gefallen, so folgt er doch seinem Triebe sein Lebenlang, selbst auf die Kosten des Le-
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Lebens; und sowohl die Arbeit des Kaufmanns, die Musse des Weisen, die Demuht des B\xFCrgers, der Stolz des Helden — alle diese finden die Vernunft auf ihrer Seite.
Die Kunst des Ewigen, die aus B\xF6sem Gutes ziehet, pfropft auf diese Leidenschaft unsern be\xDFten Grundsatz. Hierdurch wird der
Mercurius in den Menschen gesetzet, die mit seiner Natur vermischte Tugend st\xE4rker, die Schlacken verbinden das, was sonst zu fein seyn w\xFCrde, und Leib, und Seele handeln zu einem Interesse.
Wie Zweige, sonst gegen die Pflege des Pflanzers undankbar, auf wilde St\xE4mme gepfropfet, anfangen zu tragen: so schie\xDFen die sichersten Tugenden aus den Leidenschaften auf, indem die St\xE4rke der wilden Natur, auf die Wurzel wirket. Was f\xFCr Erndten von Witz, und Redlichkeit erwachsen nicht aus Ha\xDF, Zorn, Furcht und Eigensinn! Siehe, wie der Zorn, Eifer, und Tapferkeit; wie selbst der Geitz, Klugheit; und die Tr\xE4gheit, Philosophie gebieret! Die Wohllust wird, durch gewisse Seigen gel\xE4utert, zur artigen Liebe, und nimmt sch\xF6ne Geschlecht ein. Der Neid, dem eine unedle Seele, sklavisch dienet,
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wird bey dem Gelehrten, und Helden zur Nacheiferung. Ja, wir k\xF6nnen keine m\xE4nnliche, oder weibliche Tugend nennen, die nicht aus Schaam, oder Stolz erw\xFCchse.
Also giebt uns die Natur, — la\xDFt dieses einen Zaum f\xFCr unsern Stolz seyn! — diejenige Tugend, die mit unseren Lastern am n\xE4chsten verwandt ist. Die Vernunft lenket den Hang des B\xF6sen, zum Guten, und
Nero kann, wenn er will, wie ein
Titus regieren. Die trotzige Seele, die wir in dem
Catilina Verabscheuen, rei\xDFet in dem
Decius, und ist in dem
Curtius g\xF6ttlich. Der n\xE4mliche Ehrgeitz kann zerst\xF6ren, oder retten, und machet eben so gut einen Patrioten, als einen Verr\xE4hter.
Wer wird nun dieses Licht, welches in unserem Chaos mit Finsterni\xDF verbunden ist, scheiden? der Gott in unserer Seele!
Streitige Dinge bringen in der Natur, gleiche Endzwecke hervor, und vereinigen sich in dem Menschen, noch zu einem geheimen Nutzen, obgleich wechselweise eines in die Gr\xE4nzen des andern f\xE4llt, wie in einem wohlgemachten Gem\xE4lde Licht, und Schatten; und, ob sie sich gleich oft so vermischen, da\xDF man
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den Unterscheid, wo die Tugend aufh\xF6ret, und das Laster beginnet, nicht bemerken kann.
Thoren lassen sich deswegen zu der Meynung verleiten, es sey gar kein Laster, und gar keine Tugend. — Weil Wei\xDF, und Schwarz, sich vermischen, vertreiben, und tausendfach vereinigen l\xE4\xDFt, giebt es deswegen kein Wei\xDF, und Schwarz? Fragt nur euer eigenes Herz! Nichts ist kl\xE4rer. Sie zu vermischen braucht man sonst nichts, als Zeit, und M\xFChe.
Das Laster ist ein Ungeheuer von so schrecklicher Gestalt, da\xDF man es nur sehen darf, um es zu hassen. Wenn wir es aber gar zu oft sehen, so werden wir mit seiner Gestalt bekannt. Anf\xE4nglich wird es uns leidlich, dann erregt es uns Mitleiden, und endlich umarmen wir es. — Aber, wo das \xE4u\xDFerste Laster sey, ist noch nicht ausgemacht. — Frag, wo ist Norden? In
York, an dem
Tweed, in Schottland, in den
Orcaden, in
Gr\xF6nland, in
Zembla, oder, Gott weis wo! — Kein Mensch gestehet, da\xDF er das Laster im h\xF6chsten Grade besitze; und jeder glaubt, da\xDF sein Nachbar lasterhafter sey, als er. Selbst diejenigen, die gerade unter seiner Zone wohnen, f\xFChlen entweder seine Wuht gar nicht, oder
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gestehen es doch nicht. Der verh\xE4rtete Einwohner behauptet, das sey recht, was gl\xFCcklichere Gem\xFChter schon durch das blo\xDFe Ansehen in Schrecken setzet.
Jeder Mensch mu\xDF tugendhaft und lasterhaft seyn, wenige zwar \xE4u\xDFerst, aber doch alle in einem gewissen Grade. Der Schelm, und der Narr, hat kluge, und gute Zuf\xE4lle, und selbst der Beste thut zuweilen das, was er verachtet. — Wir folgen dem Guten oder B\xF6sen nur st\xFCckweise, denn die Selbstliebe leitet entweder zum Laster, oder zur Tugend. Jeder strebet nach einem besonderen Ziele, aber, die gro\xDFe Absicht des Himmels ist nur eine, n\xE4mlich das Ganze. Diese widerstrebet jeder Thorheit, jedem Eigensinne. Diese vernichtet die Wirkung von jedem Laster. Diese gab jedem Stande gl\xFCckliche Schwachheiten, der Jungfrau die Schaam, der Matrone den Stolz, dem Staatsmanne die Furcht, dem Heerf\xFChrer die K\xFChnheit, und dem P\xF6bel den Glauben. Diese kann Endzwecke der Tugend aus der Eitelkeit erzeugen, die keinen andern Vortheil, und keine andere Belohnung, als das Lob suchet; und diese kann auf Bed\xFCrfnisse und auf Fehler der Seele, die Freude,
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den Frieden, und die Herrlichkeit der Menschen bauen.
Der Himmel, der eines, um des andern Willen erschuf, der den zum Herrn, jenen zum Knechte, diesen zum Freunde machte, der hie\xDF jedem von den andern so lange Hilfe fordern, bis die Schw\xE4che des einen, die St\xE4rke aller wird. M\xE4ngel, Schwachheiten, und Leidenschaften, verbinden entweder das gemeinschaftliche Interesse noch mehr, oder sie machen das Band noch angenehmer. Diesen haben wir wahre Freundschaft, aufrichtige Liebe, und jede innig gef\xFChlte Freude, die dem Leben hier zugedacht ist, zu verdanken. Aber, von eben diesen lernen wir auch, diesen Freuden, dieser Liebe, nnd diesen Vortheilen, am Ende des Lebens zu entsagen. Halb von der Vernunft, und halb von dem blossen Abgange der Kr\xE4fte unterrichtet, lernen wir den Tod bewillkommen, und ruhig sterben.
Niemand will mit seinem Nachbar tauschen, es mag nun Gelehrsamkeit, Ruhm, oder Geld seine Leidenschaft seyn. Der Gelehrte ist gl\xFCcklich, da\xDF er die Natur erforschet, der Thor ist gl\xFCcklich, da\xDF er nicht mehr weis. Der Reiche ist gl\xFCcklich in seinem Uiberfiusse, und der Arme begn\xFCget sich mit der Vorsorge des Him-
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mels! — Siehe, der blinde Bettler tanzet, der Kr\xFCppel singet! der Betrunkene d\xFCnkt sich ein Held, und der Tr\xE4umer ein K\xF6nig zu seyn. Der verhungernde Themist, ist in seinen goldenen Hoffnungen, und der Dichter mit seiner Muse am gl\xFCcklichsten! —
Siehe, ein bewundernsw\xFCrdiger Trost begleitet jedweden Stand, und allen ist der Stolz, dieser gemeinschaftliche Freund gegeben! — Siehe, jedwedes Alter hat eine angemessene Leidenschaft! Die Hoffnung wandert best\xE4ndig mit uns, und sie verl\xE4\xDFt uns auch dann nicht, wenn wir die Welt verlassen m\xFC\xDFen!
Betrachte das Kind! Nach der g\xFCtigen F\xFCgung der Natur vergn\xFCgt es sich an einer Klapper, und freuet sich \xFCber eine Puppe. Ein etwas lebhafteres Spielzeug, von gleich schlechtem Wehrte, nur etwas ranschender, vergn\xFCgt noch den J\xFCngling. Scherpfen, Ordensb\xE4nder belustigen den Mann, und die Werkzeuge der Andacht, sind die Besch\xE4ftigung des Greises. Mit diesen Kleinigkeiten noch immer so sehr vergn\xFCgt, als vorhin mit den andern, schl\xE4ft er endlich erm\xFCdet ein, und so ist das elende Spiel des Lebens zu Ende. Inzwischen vergoldet die Meynung mit abwechselnden
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Stralen die bunten Wolken, welche unsere Tage versch\xF6nern. Jeder Mangel an der Gl\xFCckseligkeit ist durch die Hoffnung, und jede L\xFCcke des Verstandes durch den Stolz ersetzt. Diese bauen so geschwind auf, als die Einsicht niederrei\xDFet. Best\xE4ndig fort lacht die Perl, Freude in den B\xE4cher der Thorheit. Wenn eine Aussicht verschwindet, so k\xF6mmt gleich wieder eine andere zum Vorscheine, und nicht eine einzige Eitelkeit ist uns umsonst gegeben. Selbst die Eigenliebe wird durch g\xF6ttliche Vermittelung der Maasstab, die M\xE4ngel anderer gegen die deinigen zu messen. Betrachte dieses, und bekenne, da\xDF dir noch immer ein Trost bleibt, dieser n\xE4mlich: Obgleich der Mensch ein Thor ist: so ist doch Gott weise!
(Wird fortgesetzt.)