Der Vern\xFCnftige Zeitvertreiber
Bl\xE4ttern:
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Der Tempel der Ungewissheit
In einem Lande, das in dem vierzigsten Grade der Breite lieget, ist ein sehr weit ausgebreitetes Thal, dessen gem\xE4chlicher Abhang die Leute anlocket, es
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durchzuwandern. Hinten im Thale stehet ein pr\xE4chtiger Tempel, welcher der G\xF6ttinn der Unwissenheit geweyhet ist. Um ihn her stehen viele bejahrte Eichen, und der Boden ist mit Unkraut, und Dorren bewachsen. Die Bauart dieses Tempels ist gohtisch, und \xFCber der grossen Pforte ist ein ungeheures g\xE4hnendes Maul sehr schlecht im Steine gehauen. An den Seiten dieser Pforte stehen zwo Stat\xE4en, die ihre Achseln ver\xE4chtlich gegen einander zucken, und einander fortzustossen suchen. Auf dem einem Fu\xDFgestelle liefet man Theorie, auf dem andern aber Praxis. Kaum tritt man \xFCber die Schw\xE4lle des Tempels, so siehet man schon unz\xE4hlige Schaaren von Menschen, die in der Kleidung, in den Mienen, und Gebehrden unterschieden sind, den Tempel anf\xFCllen. Einige sind von ihrem gew\xF6hnlichen Schlafe bet\xE4ubet, und schaukeln sich immer vorwerts, und r\xFCckwerts, andere plaudern immer mit einer sehr rauhen Stimme; und uoch andere f\xFChren \xFCber die, bey dieser zahllosen Menge, immer abwechselnde Zuf\xE4lle, ein dumms Gel\xE4chter. Aber allen ist der Name der G\xF6ttinn unbekannt, ja, sie wissen nicht einmal, wo sie sich selbst aufhalten. Die W\xE4nde des Tempels sind mit
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sind mit allerhand ausschweifenden Gem\xE4lden, und abgeschmackten Zierrahten ausgeschm\xFCckt; mit Figuren in Goldverbr\xE4mten Kleidern, Fischbeinr\xF6cken, Schleifen, Schnurbr\xFCsten, Per\xFCcken, und dergleichen. Auf einer andern Seite siehet man Schildereyen von Schifbr\xFCchen, und b\xFCrgerlichen Kriegen, und ringsumher ist der Tod, und die blasse Uufruchtbarkeit, in verschiedenen Stellungen, und Gestalten abgebildet. — Von einem hohen Gestelle l\xE4rmt ein abgezehrtes Weib best\xE4ndig: „J\xFCnglinge, glaubet euch selbst nicht! Alles was in eurem Innern vorgehet, ist T\xE4uscherey und Blendwerk. Gehet hin zu den Alten, und denket mit frommer Selbstverlaugnung, was sie thun, ist wohlgethan! — Von einer andern Seite her, schreyet, und tobet, ein strotziger Graubart: J\xFCnglinge, die Vernunft ist ein Unthier! Wollt ihr die Wahrheit von dem L\xFCgen unterscheiden, so sammelt die Stimmen von grossen Haufen!" — Unterdessen schlenkert die Menge fort. Bald dr\xE4ngt sie sich vorwerts, und bald taumelt sie wider zur\xFCcke. Sie g\xE4hnet und lachet, sie siehet, aber sie bemerket nichts; sie h\xF6ret, und verstehet nichts. Von Zeit zu Zeit trennt sie sich vor einer
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wissen Art von Leuten, welche mit der heiliger Doppelart in der Hand, unschuldige menschliche Schlachtopfer zum Altare der angebehteten G\xF6ttinn schleppen, und mit derselben Blut ihr nie trockenes Heilighthum begie\xDFen. Hier stehet die m\xE4chtige G\xF6ttinn, wie ein Colossus, in einer Stat\xFCe von Korkholz, deren Fu\xDFgestell eine ungheure Menge kegelf\xF6rmig aufgeth\xFCrmter B\xFCcher ausmachen. — Hinter dem Altare ist ein abgesonderter Einfang. Daselbst befinden sich gewisse Sonderlinge, die der G\xF6ttin Loblieder singen, in welchen sie ihr danken, da\xDF sie den Sterblichen die Krankheiten, ihr k\xFCnftiges Schicksal, und die Stunde des Todes verbirgt. Wenn es aber einer von diesen Leuten waget, dahin zu kommen, wo die Menge versammelt ist, so ist es nicht anders, als wenn der abscheulichste Sturm brauset. Ein f\xFCrchterliches Geheul, und laute Verfluchungen erschallen von allen Seiten, und wiederhallen vom hohen Gew\xF6lbe. Einige wagen sich nicht hin\xFCber, und weichen also den Beschimpfungen aus. Noch andere suchen den gro\xDFen Haufen zu hintergehen, und verbergen sich, so gut sie k\xF6nnen hinter einer spanischen Wand. Aber, aller ihrer Vorsicht ungeachtet, bringen ihre Ausd\xFCn-
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stungen dennoch durch, und diese geben sch\xE4rfsten Stacheln ab, und beleben die Alltagsk\xF6pfe zur Verfolgung. Am Fu\xDFe des Altars ist eine Th\xFCre, durch welche man in eine ger\xE4umige unterirdische H\xF6hle k\xF6mmt, wo man bey dem schwachen Lichte einiger Lampen einen Trupp ernsthafter Philosophen siehet, welche ganze Folianten durchbl\xE4ttern, und auswendig lernen. Dort sind auch vnrschiedene Schulf\xFCchse, welche alte M\xFCnzen, und unleserliche Aufschriftungen bewundern. Auch finden sich hier teifsinnige Sprachgelehrte, die mit gewissenhafter Genaugkeit, die W\xF6rter nach ihren Biegungen und Zeiten herplappern. Und hier sind auch diejenigen Herren, welche ihr Leben damit zubringen, da\xDF sie alle wahre Gelehrsamkeit untergraben, und sich einbilden, da\xDF sie nur allein eine tiefe Kenntni\xDF von den gr\xFCndlichen Wissenschaften haben. Hier werden auch j\xE4hrich an einem zu dieser Feyerlichkeit eigends bestimmten Tage, ein Exemplar von den Werkes des
Newtons, des
Wolfs, und des
Leibnitz verbrannt. —
ENDE