Bl\xE4ttern:
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XVI.
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Geschichte einer jungen Wilden.
Aus dem Franz\xF6sischen.
Im September 1731. kam ein M\xE4gdchen von neun bis zehn Jahren, in
der Abenddemmerung, f\xFCr Durst
in das Dorf Songi, das 4. bis 5 Meilen von Chalons in Champagne liegt.
Ihr schwarzer Leib war mit Lumpen und
Fellen bedeckt, die F\xFC\xDFe aber waren blos.
Ihre Hand hatte sie mit einem keulenf\xF6rmigen Stocke bewaffnet. Alle Bauern dieser Gegend, die sie von ferne sahen, liefen eilends davon, und verschlossen Th\xFCre und Fenster, weil sie den Teufel zu sehen glaubten. Einer aber dieser Dorfhelden wollte vorher noch eine
Probe anstellen, ob es auch wirklich der
F\xFCrst der H\xF6lle sey. Er hetzte also seinen mit einem zackigten Halsbande geharnischten Hund auf dieses Ungeheuer.
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Die Wilde erwartete den zottigten Hund
herzhaft, und versetzte ihm mit einer
Keule einen so nachdr\xFCcklichen Schlag
vor den Kopf, da\xDF derselbe todt zu ihren F\xFC\xDFen fiel. Unsere Amazoninn frohlockte \xFCber diesen geschwinden Sieg, und
tanzte auf dem Korper ihres erschlagenen
Feindes eine gute Weile herum. Gewi\xDF, die\xDF war auch f\xFCr ein M\xE4gdchen von
10. Jahren eine That, die eben so viel
bedeutete, als wenn Herkules das leon\xE4ische Ungeheuer erlegte. Die Siegerinn verfolgte ihren Sieg. Sie versuchte eine Th\xFCre aufzusprengen; allein sie
zog unverrichteter Sache von dieser Festung wieder ab, begab sich in den Wald
zur\xFCck, kletterte auf einen Baum, und
schlief in der Luft geruhig ein.
Nunmehr ertheilte der Herr
Vicomte von Epinoy den Befehl, sie zu haschen.
Ein verschlagener Kopf unter den Landsleuten gab den weisen Raht, ihr unter
den Baum einen Eymer voll Wasser zu setzen. Alle Bauern erhoben diesen klugen Einfall. Sie stieg wirklich herunter; allein, als sie zu fr\xFCh merkte, da\xDF
einige Leute herbey eileten, so schwang
sie sich wieder auf den Baum. Der an
hurtigen Einfallen unersch\xF6pfliche Rahtgeber schlug hierauf vor, man sollte eine
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Frau und Kinder um den Baum herumstellen. Dies geschah. Die Frau hatte
ein Kind auf dem Arme, lachte, scherzte,
spielte, und wies zugleich dem wilden
M\xE4gdchen mit liebkosenden Gebehrden
Fische. Dieses bekam Appetit, stieg etwas hernieder, bald aber wieder in die
H\xF6he. Die Frau verdoppelte hierauf
ihre Liebkosungen, und bewog endlich
die Wilde, herunter zu steigen. Und
die\xDF war der erw\xFCnschte Augenblick, da
man sie haschte, und nach dem Schlosse
von Songi gleichsam im Triumpfe einf\xFChrete. - Man stelle sich hier den Zulauf aus allen D\xF6rfern, das Frohlocken
der Kinder, und zugleich der wunderbaren Erz\xE4hlungen, die einer dem andern
von diesem Wundergesch\xF6pfe machte, vor.
Was hatte nicht ein Gelegenheitsdichter
hier gewinnen k\xF6nnen?
Man brachte sie zuerst in die K\xFCche.
Wie ein Habicht scho\xDF sie auf das Federwildpr\xE4t zu, und ehe man es merkte,
hatte sie es schon zwischen ihren Z\xE4hnen.
Eben so geschwinde war sie mit einem
Kaninchen fertig. Nachdem man sie hier
verschiednemal gewasche, so entdeckte man,
da\xDF sie von Natur wei\xDF w\xE4re. Man befand ihre Daumen dick; weil sie sich
auf denselben stutzend, von einem Aste
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auf den andern zu werfen gewohnt war.
Sie bediente sich derselben so, wie die
jungen B\xE4ren ihrer Vorderpratzen. Der
Vicomte \xFCbergab sie der Aufsicht seines
Sch\xE4fers, der die erste und rauheste
Wildheit aus ihr verbannen sollte. Die
Methode, die dieser handfeste Mann bey
ihr gebrauchte, war ungefehr diejenige,
die er bey der Abrichtung seines Phylax
gebraucht haben mag; und die Bauern
nannten auch in der That dieses Gesch\xF6pf, welches der Sch\xE4fer zum Menschen schlagen sollte, das Thier des Sch\xE4fers. Sie ward eingesperrt; allein, der
Freyheit im Waide gewohnt, arbeitete sie so lange, bis sie L\xF6cher durch die
Mauern und D\xE4cher brach. Beydes
setzte die Zuschauer in Erstaunen, sowohl
wann man sie \xFCber die D\xE4cher hinlaufen , als durch die engsten Oefnungen
durchschlupfen sah. So entkam sie einst
bey der allerschlimmsten Witterung, da
alles mit Glateise \xFCberzogen war. Nachdem man sie lange vergebens gesucht
hatte, so traf man sie endlich wieder
auf einem Baume an. Nichts \xFCbertraf
ihre Geschwindigkeit, wenn sie \xFCber die
Felder hinflog, oder fortglitschte. Sie
hohlte auf ihren befl\xFCgelten Fl\xFC\xDFen das
Wildpr\xE4tt im st\xE4rksten Laufe ein. Noch
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1737 legte sie davon vor der K\xF6niginn
von Pohlen eine merkw\xFCrdige Probe ab.
Damals, das ist einige Jahre nach ihrer Errettung aus der Wildheit, hatte
ihre Stimme was Feines und Durchdringendes. Bisweilen schrie sie aber
auch aus vollem Halse, und dieses unertr\xE4gliche Geschrey zog ihr Anfangs manche harte Begegnung zu. Ihre Worte
waren abgebrochen und verworren, und
sie sprach wie ein lallendes Kind. Die
K\xF6niginn nahm sie mit auf die Jagd.
Unsere Wilde hohlte die Hasen, die nur
erst aufgestiegen waren, gl\xFCcklich ein, und
brachte sie der K\xF6niginn. —
Hier m\xFC\xDFen wir in unserer Erz\xE4hlung
auf einige Augenblicke zur\xFCck gehen, um
von der Mademoiselle le Blanc selber,
denn diesen Namen hat sie, da sie eine
Christinn wurde, bekommen, eine von ihren Begebenheiten zu erfahren, die sich
mit ihr, kurz vor ihrer Errettung, zugetragen hat. Sie hatte damals ein anderes wildes M\xE4gdchen bey sich, das
ebenfalls schwarz, aber etwas \xE4lter, als
sie selber war. Mit dieser gieng sie auf
Ebentheuer aus. Sie schwammen beyde \xFCber einen Flu\xDF, es war vermuhtlich
die Marne, tauchten unter, und fiengen
Fische, die sie mit den Z\xE4hnen zerrissen,
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ausnahmen, und ohne Kauen hinunter schluckten. Nach dieser Mahlzeit thaten
sie einen Zug in das Land hinein. Von
ungef\xE4hr fand le Blanc unter Weges
einen Rosenkranz, woraus sie sich ein
Armband machte. Sie freuete sich \xFCber
dieses artige Ding \xFCber alle Massen, und
da ihre Gef\xE4hrtinn Miene machte, die
Beute mit ihr zu theilen, so versetzte le
Blanc derselben mit ihrer Keule eine
so nachdr\xFCcklichen Schlag an der Stirne, da\xDF diese zur Erde fiel, und gr\xE4ulich zu schreyen anfieng. Die Wunde
blutete heftig, und le Blanc haschte ab
sobald Fr\xF6sche, streifte ihnen die Haut
ab, klebte sie \xFCber die Wunde, und
machte einen Verband von Baumrinden.
Vielleicht war dieses eine Wirkung ihrer
Vers\xF6hnung, oder des Mitleidens, das
sich auch in einem wilden Herzen reget.
Nichts war schwerer und gef\xE4hrlicher, ihr abzugew\xF6hnen, als der fast un\xFCberwindliche Appetit nach rohem Fleische,
Bl\xE4ttern, Zweigen und Wurzeln der
B\xE4ume. Das Brod bekam ihr \xFCbel,
weil ihr alles, worein Mehl, etwas salzigtes oder ges\xE4uertes war, ein Erbrechen verursachte. Fische a\xDF sie am liebsten. Ja sie sprang einmal, da sie schon
zwey Jahre unter den Menschen war,
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unvermuhtet, im Angesichte des Herrn Vicomte und seiner G\xE4ste, in einen Teich,
und man mu\xDFte sie wohl verwahren, da\xDF
sie nicht \xF6fters einen Wasservogel vorstellte, und die Anwesenden in Furcht
und Angst dadurch setzte. Den Aquavit liebte sie sehr, und nennte ihn un brule ventre, einen Bauchbrenner. Ein
andermal mu\xDFte sie bey der Tafel erscheinen. Als sie aber nichts nach ihrem
Geschmacke in den Sch\xFC\xDFeln fand, so
lief sie wie der Blitz davon, scho\xDF auf
den Grund eines Teiches, und brachte
in ihrer Sch\xFCrze eine grosse Menge Fr\xF6sche, womit sie voller Freuden die Tafel besetzte, und ausrief: tien man man,
donc tien. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Anwesenden sich in der Geschwindigkeit an diesen ungebehtenen G\xE4sten werden loszumachen gesucht, und
wie wenig Appetit sie werden \xFCbrig behalten haben. Le Blanc sammelte die
herumspringenden Fr\xF6sche wieder in eine
Sch\xFC\xDFel, und setzte sie von neuem auf;
und diese Kom\xF6die spielte sie nachher
mehr als einmal. Alle M\xFChe, die man
indessen anwendete, ihren Magen an gekochte Speisen, und sie selber zu einer
ordentlichen Lebensart zu gew\xF6hnen, hatte die schlimme Folge, da\xDF sie aus einer
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schmerzhaften Krankheit in die andre fiel.
Oft verzweifelte man ganz an ihrem Aufkommen. Das einzige Mittel, wodurch
man sie rettete, war, da\xDF man ihr gleichsam verstohlener Weise rohes Fleisch,
oder lebendige H\xFChner brachte, deren
warmes Blut f\xFCr ihren vertrockneten
Magen, und eingeschrumpeltes Eingeweide, ein rechter Balsam war. Endlich gew\xF6hnete sie sich das rohe Essen
ab, und bekam zuletzt gar einen Abscheu davor.
(Der Beschlu\xDF folgt im n\xE4chsten St\xFCcke.)
Die beyden Freyer.
Die Tochter des
Themistokles ward
von zween B\xFCrgern zur Ehe begehret. Er zog den ehrlichen Mann, der
arm war, demjenigen vor, der minder Ehrlichkeit, aber viele Reichth\xFCmer besa\xDF, und sagte: er wollte zu seinem
Schwiegersohne lieben einen Mann ohne
Verm\xF6gen, als ein Verm\xF6gen ohne
Mann haben!
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