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XLVI.
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Fortsetzung der allegorischen Beschreibung des Zustandes der Meschen in der Welt.
Die beyden Personen, deren Werk es gewesen, uns in dieses Land zu bringen, sind auch verpflichtet, uns darinnen den Weg zu weisen. Wir nennen diese Personen Eltern, und den Unterricht, den sie uns geben, Erziehung.
Die Erziehung besteht eigentlich in Nichts anders, als daß uns diese Personen, oder die von ihnen dazu gedungen werden, ihre Meynungen und Neigungen einflößen, und nach ihren Sitten Und ihrer Lebensart gewöhnen Sie fügen dieser Erziehung, ohne vieles Wählen, noch dasjenige bey, was sie sonst im Gebrauche, und von diesen und jenen verrichten sehen. Unter diesen Handlungen giebt es freylich einige, die man
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unumgänglich mitmachen muß, wann man anders in der bürgerlichen Gesellschaft leben will; allein, es mag damit beschaffen und gehalten werden, wie es will, so geschieht die Einflößung aller dieser Dinge doch nur vermittelst der Eigenliebe.
Die verschiedenen Erziehungen der Menschen haben etwas, darinnen sie unterschieden sind, und darinnen sie übereinkommen. Der Grund von allen aber ist allemal die Eigenliebe. Diese nimmt verschiedene Gestalten an, nachdem die Menschen sind, die sie anwenden.
Gewisse Leute lassen mit der Zeit zwar nach und nach die Grundsätze, die ihnen diese Erziehung beygebracht hat, fahren, welche auch im Grunde nur damit umgehet, daß die Lehren der Vorfahren nur nachgebehtet werden; deßwegen aber liegt ihnen die Eigenliebe nicht weniger am Herzen: diese giebt sich nur einen andern Namen, und läßt sich also von jeden verehren.
Es schlagen sich, wenn der Mensch einige Jahre die Welt bewohnt hat, noch zween andere Führer zu der Eigenliebe, deren einer Meynung. der andere Eigennuth heißet. Diese verlassen den Menschen niemalen, und leiten ihn stets an der Hand.
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Das Glück hat endlich noch einen starkem Einfluß in die menschlichen Gemühter, als alles übrige. Es ist ein betrügliches Bild, das mit gleicher Hurtignit erscheinet und verschwindet. Gleichwohl ist es die Göttinn der Welt. Jedermann redet von ihr, sucht sie ängstlich, schmeichelt ihr, behtet sie gleichsam an, und gehet zuletzt mißvergnügt von ihr. Sie ist grausam und ungerecht; sie qwälet den Menschen auf eine unsichtbare Art; sie ersticket in ihm gemeiniglich alle Begriffe und Empfindungen welche die Religion und die wahre Tugend ihm beyzubringen bemüht sind; sie schleicht sich durch die Sinne und den Verstand bey uns ein. Bemeistert sie sich nachher auch des Herzens, so ist fast alles verloren, und aus diesen Posten läßt sie sich nur mit der äußersten Gewalt vertreiben.
Wie mancherley sind nicht die Qwalen, welche das Glück dem Menschen auferlegt! Es versteht sich heimlich mit der Eigenliebe, und überliefert ihn dem Scheine. Dieser bildet nur gar zu oft den Menschen ein, es sey besser und leichter mit ihm fortzukommen, als mit der Tugend. Er bezaubert unsere Einbildungskraft, und erfüllet sie mit falschen
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Vorstellungen, die zu gleicher Zeit angenehm und verdrießlich sind. Reichthümer, und Bekümmerniße sind diese nichtigen und eitlen Vorwürfe, welche ihre Wohnung bey der Lüsternheit haben.
Der vermeynten Gottheit, dem Glücke, bringet man unaufhörlich Opfer, durch welche doch weder ihre Wuht gestillet, noch ihre Gunst erlanget wird. Es muß sich alles zu diesen Opfern brauchen lassen, ohne Unterschied des Geschlechts, des Alters, des Standes; Verwandte und Bekannte; Freunde und Feinde; kluge Leute und Narren; geschickte Männer und ungeschickte Tölpel, alles opfert man dem Glücke auf, und unter diesen oft die Freunde am häufigsten. Indessen irren die Leute, die das Glück unbeständig nennen. Es ändert sich nicht; es ist und bleibet allezeit grausam und schalkhaft in den Verfolgungen seiner Verehrer! Es stellet ihnen blendende Vorwürfe, die aber nichts Wesentliches sind, in einem falschen Lichte auf eine gewisse Weite so künstlich vor, daß die Klügsten sowohl, als die Begierigsten dadurch betrogen werden. Es laßet seine Verehrer an Orten, wo sie sich haufenweise
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einfinden, Kleinigkeiten als Dinge von unschätzbarem Wehrte sehen, und das gleichsam nach den Regeln der Sehekunst. Man eilet dem Lichte zu, welches so herrlich in die Augen schimmert, und plötzlich ist es verschwunden. Man sieht nichts mehr, und findet um und neben sich nur Dunst und Rauch. Doch ist dieses nicht die einzige Art der Plagen, womit das Glück Menschen verfolget. Es giebt noch grausamere. Denn fast allezeit bedient es sich seinen Anbehter nur dazu, daß einer den andern stürzen muß, und oft, ja die meiste Zeit stürzet es sie alle mit einander!
Die Welt ist ein Land, in welchem Mühe und Arbeit herrschen. Man mag die Lebensarten und Handthierungen, die man darinnen erwählet und treibet, füglich als Kampf und Laufplatze betrachten. Sie fuhren verschiedene Namen, und man richtet sich darinnen nach verschiedenen Weisen, Sitten und Gebräuchen. In einigen läuft man beständig ohne Ordnung und Regel fort, nur, wie es scheinet, um zu laufen. Zwar soll der Zweck auf ein gewisses Ziel gerichtet seyn; aber dieses ist nicht allemal sichtbar. Unsere Führer treiben uns an. Wir eilen und wir gelangen zuweilen
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bis au die Hälfte des Weges; oft ganz nahe, an das Ziel. Allein, wann wir dasselbe erreicht zu haben vermeynen, als dann rückt das Glück es immer weiter vor uns hinaus. Oft sind diejenigen, die mit uns in den Schranken laufen, geübter, geschickter, hurtiger als wir, und dann sucht man den Vorspruch durch Waffen zu erkämpfen, die einige List, andere Betrug nennen. Gewisse Zuschauer geben ihnen Namen, die zweydeutig genug sind, und wollen sie sinnreiche Einfälle, und kluge Streiche betitelt wissen. Ein jeder ; welcher das Ziel nicht erreicht, wird für einen ungeschickten Tropf gehalten und man spricht nicht mehr von ihm. Derjenige aber, der auch dahin gelanget, hat doch noch nicht gewonnen. Er muß den Weltlauf um den Preis vom neuen mit andern antreten, und dieses Laufen hat kein Ende, so lang die Läufer leben. Man kann niemals in den Besitz des erlangten Ziels ungestört bleiben, weil die Menge der Mitläufer unzählig ist.
Zween Feinde dieser Bemühungen erblickt man ziemlich nahe. Sie sind desto gefährlicher, je unversöhnlicher sie sind. Der erste ist Irrthum, den haben wir unsern Führern, der Eigenliebe,
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dem Eigennütze und der Meynung zu
danken. Er sieht nicht scheuslich aus, sein erster Anblick nimmt vielmehr ein. Er tritt ganz unschuldig einher, hat ein aufrichtiges Gesicht, und bringet sich dadurch nur gar zuviel Glauben und Beyfall zuwege. Seine Reden sind voller Spitzfindigkeit; und glücklich ist, wer seiner falschen Beredsamkeit entgehen kann! Er ist hurtig, nimmt tausend verschiedene Gestalten an, und ergreift von denen, die in den Schranken laufen, mit wunderbarer Behendigkeit, bald diesen, bald jenen; führet darauf den der sich von ihm bemeistern läßt, auf gefährliche Abwege, und verläßt sodann plötzlich den Betrogenen, der auf diesen Irrwegen keinen Trost hat, als daß er seinen Feind kennet, dessen Verfolgungen er gleichwohl nicht entgehen kann. Gelingt es diesem
Proteus nicht, uns unter einer Gestalt zu hintergehen, so ändert er die Farbe, und lauret uns vom weiten auf; ja es scheinet oft, daß wir nicht unzufrieden sind, wenn wir unsern Feind hin und wieder vorfinden. Auf diese Art wird unser Lauf fortgesetzet, und gehindert. Wir erblicken den Zweck unserer Anschläge, und verlieren ihn wieder aus den Augen, und
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dieses wechselt so lange, bis durch die Bezauberung des Irrthums, der dem Laufe bestimmte Preiß verschwunden ist. In dieser Verwirrung erwischt ein zweiter Feind den Armseligen, und wirft ihn aus den Schranken ; daß er dieselben nimmer wieder betreten kann. Dieser letzte Gegner heißt Tod, ein unbarmherziger Stöhrer aller menschlichen Anschläge. Dieser versetzt ihn vom neuen mein ganz außerordentliches Land, wovon die menschliche Vernunft sich keine deutliche Vorstellung machen kann, ohngeachtet aller Schilderungen, welche die Weltweisen und Dichter davon gegeben haben.
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