Bl\xE4ttern:
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XXIV.
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Eine sonderbare Begebenheit.
Aus einem franz\xF6sischen Sendschreiben.
Ich vertraue Ihnen mein Theurester, hier ein Geheimni\xDF an, welches so entsetzlich ist, da\xDF ich es nur Ihnen allein zu erz\xE4hlen wage. — Gestern hat man den Vermahlungstag des Fr\xE4ulein von Vildac mit dem jungen Gainville gefeyert. Ich war als Nachbar dazu eingeladen. Sie kennen den Herrn v.Vildac. Seine widrigen Gesichtsz\xFCge haben mich immer abgeschreckt, ihm etwas Gutes zuzutrauen. Gestern habe ich ihn bey allen Feyerlichkeiten genau beobachtet. Anstatt an dem Gl\xFCcke seiner Familie Theil zu nehmen, schien ihm das Vergn\xFCgen derselben vielmehr beschwerlich zu seyn. —
Sobald sich die Gesellschaft getrennet hatte, f\xFChrte man mich in eine Kammer, die unter einem grossen Thurme befindlich ist. Ich war kaum ein wenig eingeschlummert, als ich durch ein dumpfiges Ger\xE4usch, welches sich \xFCber mir h\xF6ren lie\xDF, wieder aufgeweckt wurde. Ich horchte aufmerk-
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sam, und h\xF6rte jemand mit Ketten beschwert, langsam die Treppe Herabkommen. Zu gleicher Zeit \xF6fnete sich die Th\xFC-re meines Schlafzimmers. Das Rasseln der Ketten verdoppelte sich, und derjenige, der sie trug, nahm seinen Weg nach dem Kamine. Er legte etliche halb verloschene Brande zusammen, und sagte mit einer Stimme, die gleichsam aus einem Grabe zu ert\xF6nen schien: „Ach! wie lang ist es, da\xDF ich mich nicht mehr erw\xE4rmet habe!„ Ich ergriff den Degen zu meiner Verteidigung, und schlug in der Stille die Vorh\xE4nge meines Bettes etwas zur\xFCck. Bey dem Schimmer, den die Kohlenbrande verbreiteten, erblickte ich einen abgezehrten, halbnackenden Greis, mit einem kahlen Kopfe, und ganz wei\xDFen Barte. Er hielt seine zitternden H\xE4nde \xFCber die Kohlen.— Dieser Anblick r\xFChrte mich. Indem ich diesen Alten genau betrachtete, schlugen die Kohlen in eine Flamme auf. Er drehte seine Augen nach der Th\xFCre hin, heftete seine Blicke unbeweglich an den Fu\xDFboden, und \xFCberlie\xDF sich einem au\xDFerordentlichen Schmerze. Einen Augenblick nachher warf er sich auf seine Kniee, und mit der Stirn gegen die Erde. Ich h\xF6rte, da\xDF er schluchzend ausrief: „Mein Gott, ach, mein Gott! „— In diesem Augenblicke hatten
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meine Vorh\xE4nge einiges Ger\xE4usch gemacht. Er fuhr mit Entsetzen auf. „ Ist jemand hier, rief er, liegt jemand in diesem Bette?„ Ja, antwortete ich, und zog meine Vorhange v\xF6llig zur\xFCck. Aber, wer seyd ihr? — Seine Tr\xE4hnen lie\xDFen ihm die Macht nicht zu reden. Er gab mir durch ein Zeichen mit der Hand zu verstehen, da\xDF er noch nicht sprechen k\xF6nnte, und \xFCber eine Weile kam er zu sich selbst. Ich bin der ungl\xFCcklichste Mensch auf der Erde, sagte er, mehr h\xE4tte ich vielleicht nicht n\xF6h-tig Ihnen zu entdecken; allein ich habe seit zu vielen Jahren keinen Menschen gesehen. Die Freunde, einmal mit jemand meines gleichen wieder zu sprechen, hat mich ganz eingenommen. — F\xFCrchten sie nichts! Kommen Sie, setzen sie sich an den Kamin. — G\xF6nnen sie nur ihr Mitleiden! Sie werden mir mein Ungl\xFCck dadurch erleichtern, wenn Sie es anh\xF6ren wollen. „ — Das Mitleiden trat itzt an die Stelle des Entsetzens. Ich setzte mich neben ihn. Dieser Beweis meines Zutrauens bewegte Ihn sehr. Er nahm meine Hand , und badete sie in seinen Tr\xE4hnen. — „ Gro\xDFm\xFChtiger Unbekannter, sagte er, befriedigen Sie doch vor allen Dingen meine Neubegier-
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de, und sagen sie mir, warum sie sich in diesem Zimmer aufhalten, das sonst nie bewohnet wird? Was bedeutet der unruhige L\xE4rm, den ich heute fr\xFCh geh\xF6rt habe ? und was ist denn heute Au\xDFerordentliches in diesem Schlosse vorgefallen ? „ — Als ich ihm die Verm\xE4hlung der Tochter des Herrn von Vildac berichtete, hob er seine Arme gen Himmel:,, Vildac hat eine Tochter, und diese Tochter ist verheurahtet? Gro\xDFer Gott, o! la\xDF sie gl\xFCcklich seyn! vorn\xE4mlich mache, da\xDF ihr Herz nie das Verbrechen empfin-de! — Wissen sie endlich, fuhr er fort, wer ich bin? Sie reden mit dem Vater des Vildac! —Der grausame vildac! __ Doch bin ich wohl berechtiget, mich \xFCber ihn zu beschweren? Kommt es mir wohl zu, ihn anzuklagen? —„Wie? rief ich mit Entsetzen aus, Vildac ist Ihr Sohn? und dieses Ungeheuer verbirgt Sie hier? Sie d\xFCrfen mit niemand reden, und er hat Sie mit diesen Ketten beleget? -. „ Sehen Sie, antwortete er, das sind die Wirkungen eines niedertr\xE4chtigen Eigennutzes. Das harte, und wilde Herz meines ungl\xFCcklichen Sohnes hat nie das mindeste Gef\xFChl der Menschlichkeit gekennet. Er war gegen Freundschaft und Liebe unempfindlich, und ver-
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stopfte seine Ohren g\xE4nzlich f\xFCr der Stimme der Natur. Blos, um sich meines Verm\xF6gens, zu bem\xE4chtigen, hat er mich mit Fesseln beleget. — Er hatte einst einen benachbarten Edelmann besucht, der seinen Vater verlohren hatte. Er fand ihn mit seinen Unterthanen umringet, mit der Einnahme seiner Zinsen, und mit dem Verkauft seines Getraides besch\xE4ftiget. Diese Aussicht brachte in der Seele des Vildac die abscheulichsten Wirkungen hervor. Der Hunger nach seinem v\xE4terlichen Erbgute hatte ihn schon lang geqw\xE4let. __ Ich merkte bey seiner Zur\xFCckkunft, da\xDF er viel nachdenkender, und finsterer, als gew\xF6hnlich aussah. — Vierzehen Tage nachher \xFCberfielen mich in der Nacht drey bewaffnete Kerl, und, nachdem sie mich fast ganz entkleidet, brachten sie mich auf diesen Thurm. Ich weis nicht, wie es vildac angefangen hat, die Nachricht von meinem Tode auszubreiten; allein der Schall der Glocken, und die T\xF6ne einiger Leichenges\xE4nge , haben mich \xFCberzeugt, da\xDF man den Tag meiner Beerdigung gefey-ert hat. Die Vorstellung dieser Ceremonie st\xFCrzte mich in die \xE4u\xDFerste Traurigkeit. Vergebens baht ich es mir zur Gnade aus, da\xDF man es mir erlauben
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m\xF6chte, den Vildac nur einen Augenblick zu sprechen. Diejenigen welche mir mein Brod bringen, betrachten mich unstreitig als einen Misseth\xE4ter, der dazu verurtheilt ist, sein Leben in diesem Thur-me zu beschie\xDFen. Fast zwanzig Jahre befinde ich mich in demselben. Heute Mittag, als man mir zu essen brachte, merkte ich, da\xDF man die Th\xFCre nicht recht verschlossen hatte; und ich erwartete die Nacht, mit Ungedult, mir diese Unachtsamkeit zu Nutze zu machen. Meine Absicht ist nicht zu entlaufen, allein f\xFCr einen Gefangenen will es schon etwas sagen, wenn er einmal die Freyheit hat, etliche Schritte weiter zu gehen. „ — Nein, rief ich aus, Sie m\xFC\xDFen diesen unanst\xE4ndigen Aufenthalt verlassen! Der Himmel hat mich darzu ausersehen, sie zu befreyen. Lassen sie uns forteilen ! Es liegt alles im tiefen Schlafe. Ich werde Ihr Besch\xFCtzer, Ihre St\xFCtze, und Ihr F\xFChrer seyn! — „ Ach sagte er nach einem kurzen Stillschweigen: diese Art der Einsamkeit hat meine Grunds\xE4tze, und Begriffe g\xE4nzlich ge\xE4ndert. Alles besteht nur in der Einbildung. Da ich itzt gewohnt bin, das H\xE4rteste, was wir begegnen kann, zu ertragen, warum sollte ich meine Umst\xE4nde ver\xE4ndern?
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Was sollte ich in der Welt vornehmen? Der Schlu\xDF ist gefa\xDFt: ich will in diesem Thurme sterben!,, — Ist das ihr Ernst? fragte ich. — Wir haben nicht einen Augenblick mehr \xFCbrig. Die Nacht gehet zu Ende. —Verlieren Sie keine Zeit! — Kommen Sie! — „ Ihr Eifer r\xFChret mich, allein, ich habe nur noch so wenig Tage mehr zu leben. — Die Freyheit reitzt mich im Geringsten nicht. Sollte ich also wohl, um sie zu erhalten, meinen Sohn entehren.„ — Er hat sich selbst entehret!
— „ Was hat mir aber seine Tochter gethan? Dieses unschuldige junge M\xE4gdchen, befindet sich in den Armen ihres Br\xE4utigams, und ich sollte sie mit so viel Schande \xFCberh\xE4ufen? Ach! warum kann ich sie nicht lieber sehen! - sie mit meinen Tr\xE4hnen benetzen, und fest in meine Arme dr\xFCcken? — Doch, es ist umsonst, da\xDF ich so erweicht werde. Ich werde sie nie sehen!
— Leben sie wohl! der Tag bricht an, ich gehe nach meinem Gef\xE4ngnisse zur\xFCck. „
Nein antwortete ich, und hielt ihn auf, ich werde das nicht zulassen ! Die Sklavereyhat Ihre Seele geschw\xE4chet. Mir k\xF6mmt es zu, Ihnen Muht zu machcn! — Wir wollen hernach untersuchen, ob Sie n\xF6htig haben, sich zu erkennen zu geben. Den Anfang m\xFC\xDFen wir mit der Flucht machen. Ich biehte ihnen mein Schlo\xDF, mein Ansehen, und mein Verm\xF6gen an. Man wird nicht wissen, wer sie sind, und wenn es n\xF6htig ist, wird man das Verbrechen Ihres Sohnes vor der
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ganzen Welt geheim halten k\xF6nnen. Was haben sie weiter zu f\xFCrchten? — „Gar nichts, versetzte der Greis.Ich bin von Erkentlichkeit ganz durchdrungen, und bewundere Sie. Aber es ist alles umsonst, ich kann ihnen nicht folgen! „ — Wohlan, so w\xE4hlen sie nun, erwiederte ich. Wenn ich sie hier lassen mu\xDF, so gehe ich zum Gouverneur des Landes, entdecke ihm wer Sie sind, und wir werden dann mit gewaffneter Hand kommen, Sieder Barbarey Ihres Sohnes zu entrei\xDFen! — „ H\xFCten sie sich ja, mein Geheimni\xDF zu mi\xDFbrauchen, fuhr er fort. Lassen Sie mich hier sterben. Ich bin ein Ungeheuer, das nicht wehrt ist, das Tageslicht zusihen. Ich habe das allersch\xE4ndlichste, das allerentsetzlichste Verbrechen zu b\xFC\xDFen!--------Sehen sie dort das Blut, wovon die Spuren
noch aus dem Fu\xDFboden, und an den Mauern kleben! — Das ist das Blut meines Vaters, und ich bin es, der ihm ermordet hat. — Ich wollte wie Vlidac _ Ach ! da sehe ich ihn noch! da streckt er seine blutenden Arme nach mir aus! — Er will mich zur\xFCck halten!— da fallt er hin! — O welch ein abscheuliches Gesicht! welche Verzweiflung! „ — Nun warf sich der Greis auf die Erde, raufte sich die Hahre aus, und fiel in die entsetzlichsten Zuckungen. Ich merkte, da\xDF er sich nicht mehr getrauete, mich anzusehen. Ich blieb unbeweglich! — Nach einem kurzen Stillschweigen, glaubten wir einiges Ger\xE4usch zu h\xF6ren. Es war schon alles hell um uns her der Alte stand auf.— „ Sie sind mit Abscheu erf\xFCllet, sagte er. Leben sie wohl, und fliehen Sie mich ! Ich gehe auf meinen Thurm zur\xFCck, um ihn nie wieder zu verlassen! — Ich hatte Stimme,und Bewegung verlohren Aus dem ganzen Schlosse fl\xF6\xDFte mir alles den gr\xF6\xDFten Abscheu ein. Ich entfernte mich augenblicklich, und mache mich ilzt bereit, ein anderes von meinen Landg\xFCtern zu beziehen. Ich kann so wenig denVildac vor Augen sehen, als hier wohnen bleiben! — O! wie ist es m\xF6glich, mein Freund, da\xDF die Menschheit solche Ungeheuer, und solche Schandthaten hervorbringen kann!
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